Ein Schreck am Sonntagabend: Beim Spazierengehen hat sich der Familienhund eine Schnittwunde an der Pfote zugezogen. Es blutet. Die Haustierärztin ist nicht erreichbar und die nächstgelegene Tierklinik eine Autostunde entfernt. Diese Situation durchleben Tierbesitzer immer wieder. Auch in der Veterinärmedizin herrscht gegenüber den mehr als 35 Millionen Haustieren hierzulande ein deutlicher Versorgungsmangel.

Mit HaustierDocs haben die Gründer Tanja und Stefan Kreutz eine erfolgreiche Telemedizin-Plattform für die Veterinärmedizin geschaffen. Ihr digitales Angebot richtet sich sowohl an die tierärztliche Seite als auch an Tierhalterinnen und -halter – sogenannte Patientenbesitzer – und vernetzt diese gezielt, um die Versorgungslage im Haustierbereich entscheidend zu verbessern. Vor allem im Notdienst kommen die Vorteile der Telemedizin zum Tragen, denn abseits von Ballungsgebieten und generell außerhalb der üblichen Öffnungszeiten fällt es Patientenbesitzern zunehmend schwer, im Notfall schnelle Hilfe für ihr Tier zu erhalten. HaustierDocs bietet digitalen Zugang zu erfahrenen Tierärzten und kann innerhalb weniger Minuten eine Videoberatung vermitteln. „Im Notdienst können Dank Telemedizin sogar 80 Prozent der Tiere zu Hause bleiben. Entweder lassen sich Fragen direkt klären oder die Behandlungen auf normale Sprechzeiten verschieben“, berichtet Tanja Kreutz aus der praktischen Anwendung. „Für den Kakadu, der sich den Schnabel an heißem Püree verbrannt hatte, waren Kühlung und das Füttern gefrorener Beeren ausreichend. Das zu besprechen, ging wunderbar per Video.“

Aus dem Akzelerator heraus nah an den Kunden heran

Tanja und Stefan Kreutz sind Teil des aktuellen Förderdurchgangs des norddeutschen Start-up-Accelerators Gateway49, der speziell auf Unternehmungen mit digitalen Geschäftsmodellen – auch im Gesundheitswesen – ausgerichtet ist. Hinter der Initiative steht unter anderem Mitgründer Stefan Stengel mit seiner langjährigen beruflichen Erfahrung. „Veränderung und Digitalisierung begleiten mich seit den 80er Jahren. Die Einführung von Personal-Computern am Arbeitsplatz war damals der Wechsel aus einer analogen in eine digitale Welt. Ab Mitte der 90er wurde das Internet kommerziell – ein weiterer Wandel, den ich eng begleitet habe. Daraus sind Beratung für digitale Geschäftsmodelle und das Handwerkszeug geworden, die dafür notwendigen Transformations-Prozesse zu begleiten“, blickt Stefan Stengel zurück. „Unternehmen in die Digitalisierung zu führen, kommt der Start-up-Förderung sehr nahe und in der Folge war ich organisatorisch an unterschiedlichen, auch europaweiten Förderprogrammen beteiligt. Inzwischen ist daraus das Gateway-Konzept entstanden. Der Fokus liegt auch hier auf digitalen Ideen.“

Die beiden Gründer von HaustierDocs sind mit einem Hund zu sehen.

Gründerinnen und Gründer erhalten im Programm das Rüstzeug, ihre Ideen erfolgreich umzusetzen. „Dazu gehört es auch, mit Herausforderungen richtig umzugehen“, erklärt Stengel, der neben Berufserfahrung auch auf einer pädagogischen Ausbildung aufbauen kann. „Mein Hintergrund hilft mir, die Teams eng zu begleiten. Wir führen sie frühzeitig an Kunden heran, lehren den richtigen Umgang mit Kunden und die Teams sind darin sehr erfolgreich. Es herrscht aber nicht immer Sonnenschein, es gehört auch Resilienz dazu, Projekte trotz Hürden zum Erfolg zu führen.“

Tierarztbesuche bedeuten oft Stress für die Patienten

Die humanmedizinische Vorstellung einer entspannten Arzt-Patienten-Beziehung im Behandlungsraum ist nicht auf den Veterinärbereich übertragbar. Hund, Katze oder Kaninchen lassen sich während des Arztbesuchs allenfalls beruhigen, aber nicht aufklären. Ein Tierarztbesuch stresst vor allem Angstpatienten und davon gibt es einige“, so Stefan Kreutz. „Und aufgrund der belastenden Situation in der Praxis können Symptome verfälscht gezeigt werden. Durch eine Videokonsultation erhalten Tierärzte die Möglichkeit, das Verhalten ihrer Patienten in gewohnter Umgebung zu betrachten und die Symptomatik besser zu beurteilen. Zudem bedeutet jedes Tier weniger im überfüllten Wartezimmer einen Vorteil für alle, bei denen der Besuch notwendig ist. Unsere Plattform bietet aber auch administrative und wirtschaftliche Vorteile: Wichtige Daten sind im Vorfeld zuverlässig erfasst und die Videokonsultationen bereits bezahlt. Die leider häufig auftretenden Inkassothemen werden vermieden, die Rechnungsstellung erfolgt vollautomatisch im Namen der Praxisinhaber. Es bleiben Zeit und Muße für das Tier.“

Die zeitlichen Vorteile multiplizieren sich

Haben Praxen Notdienst, verdichtet sich das Problem der Unterversorgung. „Es ist schon passiert, dass Tiere vor der Tierklinik im Auto wartend verstorben sind, weil nicht rechtzeitig genug triagiert werden konnte, um echte Notfälle zu identifizieren“, berichten die Gründer aus ärztlichen Schilderungen. „Gerade dem Notdienst hilft die Telemedizin. Die Triage findet statt, bevor die Patientenbesitzer ihr Tier bringen, und nur wirkliche Notfälle belegen die Ressourcen.“ Größtmögliche zeitliche Flexibilität wird geboten: Bei Anmeldung im System weisen SMS-Benachrichtigungen auf eingehende Anfragen hin und im Einzelfall kann situativ hinsichtlich Annahme entscheiden werden. Findet beispielsweise gerade eine Behandlung statt, wird der nächste möglichst lokale Tierarzt informiert.

Die Veterinärmediziner möchten durch Einführung der Telemedizin einen neuen Service anbieten. „Sie sind dann oft überrascht, wie viel sie tatsächlich über das Videobild beurteilen können. Und mit zunehmender Nutzung macht sich die Zeitersparnis deutlich bemerkbar: Wir rechnen mit fast fünf Minuten, die je Fall aufgrund automatisierter Prozesse und schnellerer Beurteilung per Video eingespart werden. Für die Praxen ist es komfortabel, keine Rechnungen mehr schreiben zu müssen. Mit Abschluss des Vorgangs geht die Rechnung automatisch raus. Das multipliziert sich zu einem signifikanten Zeitvorteil“, erklärt Tanja Kreutz.

Die Bekanntheit sichert den Erfolg

Das Netzwerk am Gesundheitsstandort rund um das Gateway49 bietet den Unternehmen Zugang zu Branchenwissen. Stefan Stengel gibt als Mentor viel mit auf den Weg: „Für Versorger sind Informationstechnologien nur Mittel zum Zweck. Software muss als Werkzeug funktionieren, die eigentliche Wertschöpfung ist ja die Gesundheitsversorgung. Das macht sich auch bei der Auswahl passender Lösungen bemerkbar: Die Entscheider haben klinische Kompetenzen, es fehlen aber womöglich solche aus dem Digitalbereich. Als Anbieter kann man sich das zum Vorteil machen.“

Tanja und Stefan Kreutz beherzigen das und bieten Hilfe zur Selbsthilfe, wenn es um die Kommunikation des Serviceangebots geht. „Die Tierärzte wünschen sich Unterstützung: Informiert bitte die Patientenbesitzer, dass wir eure Plattform nutzen. Das geht aber nur bis zu einem gewissen Grad.“ Die beiden Gründer sprechen hier aus Erfahrung. „Wir bieten umfassende Kommunikationsmaterialien für HaustierDocs-Partnertierärzte kostenfrei an. Websitebanner für die Praxis-Webseite, die direkt mit dem jeweiligen HaustierDocs-Tierarztprofil verlinkt werden können, Vorlagen für die Sozialen Medien, Textbausteine für E-Mail-Footer und Vorlagen für den Anrufbeantworter. Sogar fertig gedruckte Printmaterialien werden viel nachgefragt. Auf dieser Basis muss der Tierarzt dann selbst aktiv werden. Uns ist aber wichtig, dass wir die Praxen mit dem neuen Thema Telemedizin nicht allein lassen – wir sind Dienstleister und die Experten in diesem Bereich und wir geben so viel Unterstützung, wie benötigt wird.“

„Mit dieser Einstellung positioniert sich HaustierDocs genau richtig“, ist sich Stefan Stengel sicher. „Das Gesundheitswesen hat verinnerlicht, dass es in Digitalisierungsvorhaben Hilfe annehmen darf und muss, weil Wissen und Ressourcen fehlen. Aktiv forciert, erleichtert die Unterstützung den Zugang zu potenziellen Kunden.“

Zwischen Datenschutz, Performance und New Work

Die Digitalisierung wird oft mit der Befürchtung verbunden, einzelne Zielgruppen zu überfordern und abzuhängen. „Da ist die ältere Dame mit dem Dackel, die ein Telemedizinangebot aufgrund fehlender digitaler Affinität nicht wahrnehmen kann. Solche Menschen gibt es, aber man muss vergleichen: Wäre ein Auto verfügbar und könnte die Dame mit einem kranken oder verletzten Tier eine Stunde Anfahrt zur nächsten Tierklinik bewältigen?“, skizziert Tanja Kreutz einen der üblichen Gesprächspfade in der Überzeugungsarbeit. Ihr Mitgründer löst die Frage auf: „Fast jeder ältere Mensch hat heutzutage schon etwas im Internet bestellt. Ein Buch oder eine Jacke. Nicht anders funktioniert die Bestellung über HaustierDocs. Wir haben eine sehr einfache Technologie gewählt und gelernte Prozesse lassen sich anwenden. Der eigentliche Videocall findet anschließend über WhatsApp statt. Die Nutzerzahlen dieses Dienstes sind gigantisch und da gehört auch die Dame mit Dackel dazu, weil ihre Enkel auf diesem Weg mit ihr kommunizieren. Die schlechtere Alternative wäre, mit vor Sorge zitternden Händen zunächst eine neue App herunterzuladen und zu installieren.“

Nutzer haben die Möglichkeit, vorangegangene Befunde oder aktuelle Fotos im System hochzuladen. Die Datenbevorratung erfolgt DSGVO-konform. Die Tierärzte können diese Daten dann für die Behandlung abrufen. „Momentan arbeiten wir am Aufbau von Schnittstellen in die gängigsten Praxissoftware-Systeme. Eine automatisierte Datenübergabe wäre wünschenswert“, blickt Tanja Kreutz auf anstehenden Herausforderungen. „Zwei Themen, mit denen wir uns schon intensiv und zufriedenstellend auseinandergesetzt haben, sind Datenschutz und Datensicherheit: Für unser Portal und die Daten der Tierärzte, Kunden und Patienten nutzen wir einen der größten Webhoster und Rechenzentren-Betreiber Europas. WhatsApp bietet eine starke, verlässliche Video-Performance sowie Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und wir weisen Nutzer darauf hin, dass der Videocall anschließend über diese Applikation stattfindet.“

Aus den Rückmeldungen wissen die beiden Innovatoren, dass Plattform- und Videotechnologie in der Veterinärmedizin aber auch noch ganz andere Vorteile bieten können. „Gerade größere Praxen und Kliniken sind sehr daran interessiert, innovative Beschäftigungsmodelle beispielsweise für Tierärztinnen und Tierärzte in Elternzeit oder bei zeitweiser Verhinderung zu schaffen. An diesem Punkt geht es um Ressourcen und um die Mitarbeiterbindung. Werdende Mütter wollen oft weiterarbeiten oder später schon in Teilzeit wieder einsteigen. Hier können remote telemedizinische Aufgaben übernommen werden. Die Triage ist auf diesem Weg möglich und wenn ein Fall dann in die Behandlung kommt, vielleicht als Notfall, kann die Tierärztin das Praxisteam entsprechend gut informieren.“ Und sicherlich lassen sich noch weitere Potenziale im Bereich moderner Arbeitsmethoden heben, da sind sich Tanja und Stefan Kreutz sicher.