Digitale Gesundheitsversorgung 2033 – die Erarbeitung der Zukunft

Etwas mehr als zwei Jahre ist es inzwischen her, dass Dr. Theresa Ahrens mit dem Aufbau einer Forschungsgruppe im Bereich Digital-Health-Engineering innerhalb des Fraunhofer IESE (Institut für Experimentelles Software-Engineering) begonnen hat – für die promovierte Molekularbiologin seither viel mehr Privileg als Aufgabe. Geforscht wird inzwischen an zwei relevanten Herausforderungen: an der Verbesserung der Dateninteroperabilität im Gesundheitswesen und an digitalen Patientenzwillingen. Erstere ist noch ungenügend, wird aber benötigt, um Gesundheitsdaten für vollumfängliche Simulationsmodelle wie die Patientenzwillinge überhaupt zugänglich zu machen. Die digitalen Abbilder sollen für mehr Prävention sorgen, indem ein Krankheitsbeginn frühzeitig detektiert oder sogar vorhergesagt werden kann, und sie sollen den eigenen Gesundheitszustand greifbarer machen.

„Das Whitepaper ‚Digitale Gesundheitsversorgung 2033: Trends, Szenarien und Thesen‘ war das erste Projekt unserer neuen Abteilung“, blickt Dr. Ahrens auf die umfangreiche Veröffentlichung zurück. „Wir haben es für die eigene Strategiefindung genutzt, daher einen sehr umfangreichen, strukturierten Foresight-Prozess gewählt und uns die Unterstützung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) gesichert – eines Experten für Zukunftsforschung. Zielsetzung war der Blick auf Entwicklungen des Gesundheitswesens über die nächsten zehn Jahre. Ausgangspunkt des mehrstufigen Prozesses, der Ausarbeitungen unterschiedlicher Arbeitsgruppen kombinierte, sind die Identifikation und Aufbereitung von Trendthemen auf Basis umfangreicher Recherche in der Literatur und in direkten Publikationen seitens Industrie und großer Consulting-Unternehmen gewesen. Dabei hat sich noch einmal gezeigt, wie breit das Feld der digitalen Gesundheit ist und wie viele unterschiedliche Wege dort bestehen.“

Mit Kompetenz ins Detail

„Digital Health bedarf verschiedener Kompetenzen, daraus ist eine Art Wunschliste für einen Workshop entstanden: Wir haben Personen aus dem Pharma- und dem weitergefassten medizinischen Bereich sowie der Medizintechnik dazu eingeladen – und viele Zusagen erhalten. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren hochmotiviert, die Zusammenarbeit entsprechend gut“, freut sich Theresa Ahrens über eine Arbeitsgruppe, aus der langfristige Kontakte entstanden sind.

Externe Teilnehmer diskutieren an einem Tisch gemeinsam über Zukunftsannahmen.

Nach dem umfangreichen externen Workshop hat eine interne Runde die Erarbeitung abgeschlossen: „Viele Annahmen waren bereits getroffen worden und wir konnten den Austausch unter uns und mit den Kolleginnen und Kollegen vom Fraunhofer ISI für die intensive Diskussion auch im Sinne unserer eigenen Strategie nutzen. Da sind noch sehr viele Stunden reingeflossen. Der Möglichkeitsraum der nächsten zehn Jahre ist einfach so ungemein groß, dass es herausfordernd war, alles auf Handlungsempfehlungen herunterzubrechen.“

Leicht sei es nicht gefallen, so Dr. Ahrens, vom Überblick auf Konkretes zu kommen – zumal auch Schwerpunkte für die eigene Forschung festgelegt worden seien. Geholfen hätten der Freiraum und Rückhalt, den das Fraunhofer-Institut der Forschungsgruppe einräume – Rahmenbedingungen, die seitens der Politik auch für Unternehmen in ihrer Entwicklung verstärkt geschaffen werden sollten.

Anwendung des Foresight-Prozesses

Die beiden Fraunhofer Institute IESE und ISI haben gemeinsam ein kompaktes, dreistufiges Foresight-Format für ihren Blick auf das Gesundheitswesen entworfen: Umfeldanalyse, Visionsentwicklung im Rahmen eines Workshops mit Expertinnen und Experten sowie Ableitung von Zukunftsszenarien und strategischen Handlungsoptionen in einem weiteren, internen Workshop. Die Szenarien sollen die Entscheidungsfindung verbessern; sie sind keine konkrete Vorhersage, sondern zeigen Diskontinuitäten auf, veranschaulichen Zukunftsaspekte und ermöglichen es, auf eine gewünschte Zukunft hinzuarbeiten.

In der Anwendung war die Umfeldanalyse Grundlage für die nachfolgende Entwicklung der Szenarien. Über 80 Trendthemen aus dem Bereich Digital Health sowie auf der Makroebene – gesellschaftliche, technologische, wirtschaftliche, ökologische, politische und werteorientierte Aspekte – wurden identifiziert und zu 21 Clustern zusammengefasst. Der Expertenworkshop befasste sich mit diesen Trendclustern und bildete im Vorausblick gemeinsame Vorstellungen von möglichen Entwicklungspfaden der digitalen Gesundheit. Dabei wurden zunächst 15 Cluster mit hohen Werten in Unsicherheit oder Auswirkung ausgewählt, für zehn davon wurden Merkmale der heutigen Situation und alternative Zukunftsannahmen formuliert. Diese stellten die Grundlage des darauffolgenden internen Szenarioworkshops dar: Gegenseitiger Einfluss und Abhängigkeiten wurden analysiert und die Annahmen der zehn Trendcluster zu drei unterschiedlichen und konsistenten Zukunftsszenarien gebündelt. Darauf aufbauend entstanden Handlungsoptionen zur Adressierung der Herausforderungen.

Die drei Szenarien im Überblick

Das erste Szenario lässt sich als konservativ oder sogar negativ bezeichnen und geht für die kommenden Jahre von unüberwindbaren Hürden und kaum Verbesserungen aus. Digitale Angebote wie die ePA können aufgrund mangelnder Interoperabilität bestehender Systeme kaum durchdringen. Technische Komplexität und hohe Datenschutzanforderungen stehen einer ganzheitlichen Prozessautomatisierung im Wege. Digital Health ist vor allem von globalen Technologieunternehmen geprägt, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten agieren. Evidenzen verlieren in der medial geprägten Wahrnehmung zugunsten fragwürdiger Botschaften an Bedeutung. Roboter unterstützen zwar in der Pflege, jedoch ohne Formen sozialer Interaktion. Die Gesundheitsversorgung findet vornehmlich in mittelgroßen und großen Städten statt, nicht auf dem Land.

Ein Teilnehmer des Workshops skizziert seine Ideen an einem Board.

Das zweite Szenario erscheint im Vergleich dazu deutlich attraktiver und skizziert eine verstärkte Digitalisierung der Versorgung. Gesetzliche Grundlagen für die Verwaltung der Datennutzung und eine Qualitätsbewertung für gesicherte Gesundheitsinformationen existieren. Die Akzeptanz der ePA ist hoch, die Datennutzung wird jedoch durch fehlende Struktur erschwert. Automatisierte Prozesse sind für einzelne Anwendungsfälle vorhanden. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und digitale Pflegeanwendungen (DiPA) ergänzen konventionelle Therapien. Roboter übernehmen auch erste Aufgaben mit sozialer Interaktion und die Versorgung auf dem Land kann weitgehend sichergestellt werden.

Konsequenterweise findet sich die digitalisierungsfreundlichste Perspektive im dritten Szenario: Die Versorgung ist umfassend digitalisiert, ein hohes Maß an Interoperabilität wird beispielsweise durch ein integriertes europäisches Datenökosystem erreicht, das wiederum eine personalisierte Medizin begünstigt. Die ePA ist vollumfänglich ausgebaut und ebenso wie ein digitaler Zwilling umfassend im Einsatz; die Zwillings-Daten sind allen Interessensgruppen zugänglich: Medizin, Forschung, Kassen und Versicherungen. Prozesse sind belastbar automatisiert, KI-Systeme werden für Gesundheitsüberwachung und -management eingesetzt, einschließlich der evidenzbasierten Vorhersage von Gesundheitsereignissen. Roboter interagieren und können Emotionen erkennen. Die Stadt-Land-Kluft wurde bezüglich vorhandener Versorgungsengpässe überwunden.

Der Aufwand hat sich gelohnt

„Das Whitepaper soll dazu anregen, kreativ an die Zukunftsschau heranzugehen“, kreist Dr. Theresa Ahrens ihre Vorstellungen ein. „Wir erhoffen uns für die Akteure im Gesundheitswesen einen Startpunkt für die eigene strategische Ausrichtung und die entsprechenden Entscheidungen einer aktiven Gestaltung. Der Aufwand hat sich dahingehend auf jeden Fall gelohnt.“ Entsprechendes Interesse erfährt die Forschungsabteilung seither, sowohl was Einladungen zur Vorstellung des Papers angeht als auch im Sinne persönlicher Gespräche, inhaltlicher Fragen bis hin zu gemeinsamen Projektbeantragungen.

„Sprechen wir in Deutschland über die Digitalisierung, kommt man viel zu häufig direkt ins Klagen. Umso wichtiger ist es, den Blick auf die Möglichkeiten zu richten und gute Mitstreitende und Wegbegleitende zu finden, mit denen man gemeinsam etwas bewegen kann.“ In der allgemeinen Diskussion sind digitaler Rückstau und überbordende Bürokratie oft eng verflochten. Vielfach gefordert: durch Bürokratieabbau den medizinischen Fachkräftemangel abfedern. Pflegepersonal und Ärzteschaft erhalten mehr Zeit für Patientinnen und Patienten, attraktivere Arbeitsplätze sorgen für Zustrom. „Nur ist Verwaltungssoftware leider nicht dafür geschaffen worden, Freude an der Arbeit zu bereiten. Nutzerzentrierung ist eine Stellschraube, die angegangen werden muss. Gemeinsam mit einer großen Universitätsmedizin haben wir gerade einem aktuellen Projekt ein Konzept für ein Datendashboard entwickelt, das besser bei den Mitarbeitenden ankommt und zudem die Patientensicherheit erhöht.“

Perspektiven und Forschungsansätze

Auch für die eigene Forschung konnte das Team um Dr. Ahrens aus dem Whitepaper viel mitnehmen: „Blickt man auf die Bewertung der betrachteten Themen, wurde unser Agendapunkt ‚Patientenzwillinge‘ in der jeweiligen Skala sehr hoch angesiedelt – sowohl was die angenommene Auswirkung auf die Versorgung als auch was das potenzielle Ausmaß an Unsicherheit angeht. Deshalb wollen wir als Fraunhofer gerade dort in die Vorlaufforschung gehen. Leider lässt sich die Ausgangslage, was Datenverfügbarkeit und Dateninteroperabilität angeht, nicht beschönigen. Das Gesundheitswesen hat es zu oft verpasst, Lösungen gemeinsam mit den Systemnutzern zu entwickeln und ausreichenden Nutzen her- und herauszustellen. Auf der Haben-Seite ist aber festzuhalten, dass manche Entwicklungen plötzlich wirklich sprunghaft erfolgen: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren die Perspektiven generativer Künstlicher Intelligenz (KI) noch nicht dergestalt absehbar; diesen zuträglichen Einfluss würden wir heute sicher anders bewerten. Hype-Cycle erbringen zwar meist nicht, was erhofft wird, es bleiben aber immer Bausteine übrig, die einen Mehrwert bieten und zumindest bei den bildgebenden Verfahren ist die KI im Gesundheitswesen angekommen. Autonome Systeme – dazu zählen KI-Anwendungen – müssen dort abgesichert werden, so dass sie der Patientensicherheit und den regulatorischen Anforderungen genügen. Die Entwicklung nimmt daher mehr Zeit in Anspruch, hier wird aber noch sehr viel passieren.“