Mit der siebten Ausgabe der Reihe „Future of Health“ setzt die Strategieberatung Roland Berger ihre globalen Betrachtungen des Gesundheitswesens fort. Während frühere Veröffentlichungen sich auf ausgewählte Experten und spezifische Problemstellungen konzentriert haben, wurden in diesem Jahr mehr als 5.000 Menschen – die Nutzer der Gesundheitssysteme – über 25 Länder hinweg zu Bewertung und Verbesserung der Leistung von Systemen befragt. Die Erkenntnis: Signifikant steigende Kosten, der demografische Wandel, aber auch medizinische Innovation setzen Gesundheitssysteme weltweit unter Druck. Eine umfassende Reform, die sich an den Erfolgsfaktoren leistungsstarker Systeme orientiert, ist notwendig und es gilt, Versorgungsmodelle zu gestalten, die bestehenden Erwartungen entsprechen.

Weltweit zeigt sich die Gesundheitsversorgung überlastet: Ihr Aufbau wird der demografischen, wirtschaftlichen und technologischen Realität immer weniger gerecht; die Gesellschaften altern. Dem damit einhergehenden Anstieg der Krankheitslast wird mit der Förderung von Innovation begegnet, die sich an neuen Bedürfnissen und Präferenzen orientiert. Bestehenden, fragmentierten Versorgungsstrukturen fehlen jedoch zumeist noch die Möglichkeiten, diese Fortschritte in großem Maßstab nutzbar zu machen: Investitionen in technologische Infrastruktur und personelle Ausstattung sind notwendig, ebenso sicherer Umgang mit Herausforderungen in Ethik und Governance. In vielen Regionen steigen die Gesundheitsausgaben schneller als das Wirtschaftswachstum. All das verstärkt die spürbare Lücke zwischen Versorgungsnachfrage und Arbeitskräfteangebot beziehungsweise zwischen Versorgungserwartung und Versorgungsrealität. Entscheidend für den erfolgreichen Wandel ist die Ausrichtung auf medizinische Bedürfnisse und gleichzeitig auf Nachhaltigkeit.

Die Befragten bezeichnen Gesundheit als „sehr wichtig“. Bei der Priorisierung von Lebensaspekten steht sie weltweit an der Spitze. Dieser Stellenwert von Gesundheit und damit verbundener Lebensqualität unterstreicht die Erwartungen an das Gesundheitswesen. In vielen Ländern wird über umfassende Reformen diskutiert: Effizienzmaßnahmen sollen hochwertige Gesundheitssysteme langfristig finanzierbar machen. Beitragserhöhungen werden nur von einer Minderheit akzeptiert, Einschränkungen des Zugangs zu Leistungen oder die Reduktion des Versorgungsumfangs erhalten die geringste Zustimmung.

Eine Mitarbeitende und eine Patienten tauschen sich über Daten in der Anmeldung aus.

Dimensionen guter Gesundheitsversorgung

Die Recherche der Autoren zeigt, dass sich die Zielsetzungen der Systeme ähneln: Resultate erzielen, Risikofaktoren reduzieren und Prävention stärken. Maßstäbe sind verschieden, einheitlich ist in Europa aber die Verbindung von Qualität und Gerechtigkeit – gleichberechtigter Zugang, Abdeckung und bedarfsorientierte Versorgung stehen im Vordergrund. Auch die Befragung stützt den Ansatz, die solidarische Finanzierung müsse selbst bei steigenden Kosten getragen werden; bestimmt von Alter und Einkommen variiert die Präferenz dabei von sozialen Sicherheitsnetzen hin zu Systemeffizienz und Nachhaltigkeit. Zielbild ist ein langfristig tragbares Gleichgewicht zwischen Gerechtigkeit und Effizienz sowie zwischen Solidarität und individueller Wahl. Über alle Länder hinweg besteht eine deutliche Präferenz öffentlicher Finanzierung; Gesundheit wird als gesellschaftliche Verantwortung empfunden.

Die Veröffentlichung von Roland Berger stellt, aufbauend auf Vergleichsstudien, sieben Dimensionen guter Gesundheitssysteme in den Raum: Gerechtigkeit, Koordination, Digitalisierung, öffentliche Gesundheit, Ressourcen, Governance und Innovation. Als gut bewertete Systeme zeichnen sich durch eine Kombination aus positiven Gesundheitsergebnissen (gesunde Bevölkerung), gleichberechtigtem Zugang und effizientem Ressourceneinsatz aus.

Gerechtigkeit
Der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ist ohne hohe finanzielle Beteiligung gewährleistet, zumeist aufbauend auf einer nationalen Steuerung der Versorgung (durch regulierte private oder Sozialversicherungen).

Koordination
Die Versorgung erfolgt kontinuierlich, effizient und patientenzentriert. Gute Koordination baut auf klaren Behandlungspfaden, starker Primärversorgung und sektorübergreifender Digitalisierung auf.

Digitalisierung
Eine gute digitale Infrastruktur verbindet Leistungserbringer, Patienten und Kostenträger und ist Basis effizienter, sicherer und bestens koordinierter Systeme. Durch die Einbettung in klinische Abläufe ist sie Grundlage der geforderten Koordination.

Öffentliche Gesundheit
Es wird in Prävention (Gesundheitsförderung) investiert, um Krankheitsursachen zu adressieren, die Bevölkerungsgesundheit zu verbessern und dadurch das Gesundheitswesen zu entlasten und Kosten zu vermeiden.

Ressourcen
Ein effizienter Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen sowie der Infrastruktur führt zu optimaler Produktivität der Gesundheitsversorgung.

Governance
Regeln, Strukturen und Prozesse dienen der Verwaltung und stellen damit die Versorgung im Sinne aller aufgeführten Dimensionen sicher. Grundlage sind zumeist nationale Gesundheitsziele und entsprechende Rahmenbedingungen.

Innovation
Innovation findet in allen Bereichen statt: Pharmazie, Medizintechnik, Informationstechnologie und die Weiterentwicklung von Prozessen und Strukturen. Die Fähigkeit, hier kontinuierlich Fortschritte zu erzielen und diese trotz Komplexität im System zu verankern, sichert langfristig die Versorgung.

Eine Ärztin und zwei Pflegekräfte schieben das Bett einer Patientin und besprechen sich dabei mit ihr.

Gesellschaftliche Präferenzen im Ländervergleich

Aufbauend auf den Dimensionen guter Versorgung widmet sich die Studie den tatsächlichen Wünschen der Menschen. Die Präferenzen der Bevölkerung der einzelnen Länder wurden erfasst.

Gesundheitliche Gerechtigkeit im Sinne gleicher Versorgung unabhängig von finanziellen Möglichkeiten ist in allen Gesellschaften von hoher Bedeutung. Selbst dann noch, wenn zwischen gleicher Versorgung und schnellerem Zugang gewählt werden kann. Entsprechend nimmt Gerechtigkeit in führenden Gesundheitssystemen eine zentrale Rolle ein.

Bei der Einstellung zur Organisation der Versorgung (Koordination) zeigen sich Unterschiede – auch dahingehend, was als gerecht empfunden wird: starke Steuerung durch Primärärzte auf der einen Seite, bevorzugter direkter Zugang zu Fachärzten auf der anderen. Uneinigkeit besteht auch in der Frage, ob Fachmedizin nach objektivem Bedarf priorisiert oder allen gleichermaßen gewährt werden sollte.

Der Umgang mit der Digitalisierung polarisiert, sie muss Vorteile für die Versorgung bringen. Datensicherheit oder die Nutzung von Patientendaten zur Verbesserung der Versorgung? Datennutzung erhält unter Einhaltung von Transparenz und Ethik Vorrang. Anders sieht es beim persönlichen Kontakt aus, der gegenüber Selbstbedienungs- oder KI-gestützten Tools übergreifend bevorzugt wird.

Die Mehrheit bestätigt, dass ein Schwerpunkt auf Prävention liegen sollte; die öffentliche Gesundheit soll Krankheiten vorbeugen, um Behandlungen zu vermeiden. Frühinterventionen, Verhaltensprävention und Screening entsprechen den Erwartungen. Dennoch bleibt das Bewusstsein, für die eigene Gesundheit verantwortlich zu sein. Die Befähigung zu einem gesunden Lebensstil ist der richtige Ansatz.

Welche Ressourcen sind die wichtigsten? Ärzte werden klar herausgestellt, was der Präferenz persönlicher Interaktion folgt. Krankenhäuser stehen an zweiter Position, gemeinsam dominieren Ärzte und Häuser die Einschätzungen. Dann folgen Versicherer und Pharmaunternehmen vor Apotheken und Vertriebswegen; digitale Gesundheitsangebote sind Schlusslicht.

Wird eine zentrale oder dezentrale Steuerung (Governance) des Gesundheitssystems bevorzugt? Überwiegend eher zentralisierte, gemeinnützige und wohlfahrtsorientierte Systeme, wenngleich in vielen Ländern Unentschiedenheit besteht. Nahezu austariert sind einheitliche Systeme gegenüber leicht bevorzugten flexiblen, individuellen Möglichkeiten.

Innovationen: Es besteht eine globale Präferenz für frühzeitigen Zugang zu neuen Therapien (bei klinischer Evidenz), wenngleich einige Länder Sicherheit priorisieren. Hier spiegeln sich Unterschiede im Vertrauen in Institutionen und in der Risikotoleranz. Das Bedürfnis nach Schnelligkeit muss in einem passenden Verhältnis zur Sicherheit gehalten werden.

Forderungen an die Entwicklung des deutschen Gesundheitssystems

Im Sinne eines Beratungshauses schließen die Experten ihre Betrachtungen mit strategischen Überlegungen und konkreten Handlungsempfehlungen für die Akteure in Politik und Gesundheitsversorgung ab.

Auf nationaler Ebene sollten die dargestellten Dimensionen erfolgreicher Gesundheitssysteme gegenüber den oftmals kurzfristig ausgelegten Wünschen der Bevölkerung abgewogen werden; die Perspektiven können deutlich abweichen, damit gilt es umzugehen. Die Umsetzung ist entscheidend, allerdings muss auch vorab kommunikativ gearbeitet und überzeugt werden, denn notwendige Reformen sind wenig populär, mit Widerstand ist zu rechnen. Die Autoren empfehlen, Strukturen dennoch mutig zu ändern und Systeme weniger auf Behandlung auszurichten, dafür mehr auf Prävention. Auch auf der Kostenseite ist zu arbeiten: Gesundheitsergebnisse müssen nachhaltig finanzierbar bleiben, wichtige Leistungen werden vom Kostendruck abgekoppelt.

Für Deutschland bescheinigt die Studie Verbesserungsbedarf über alle sieben beschriebenen Dimensionen hinweg, insbesondere im Bereich der Koordination: Strukturen sind fragmentiert, Kosten hoch und Ressourcen ungünstig ausgelastet. Im Bereich der Versorgung verweist der Vergleich auf interdisziplinäre Strukturen und klare Patientenpfade sowie auf mehr Digitalisierung – Themen, an denen bereits aktiv gearbeitet wird. Die Antworten sind naheliegend, müssen jedoch akzeptiert werden. Öffentliche Gesundheit? Gesunde Lebensweisen stärker fördern. Governance? Entscheidungen über alle Akteure hinweg treffen und verlässlich umsetzen. Innovationen? Mehr Mut bei der Erschließung neuer Technologien. Die Handlungsempfehlungen schließen auch alle anderen Akteure rund um die erbrachten Leistungen ein. Was die Politik vorlegt, muss aufgegriffen und umgesetzt werden: Prävention, Integration, Digitalisierung, Interoperabilität, Patientenorientierung und mehr Ausrichtung auf langfristige, gemeinsame Lösungen anstatt akuter Behandlung. Fairness und gemeinsame Verantwortung werden als Schlagwörter angeführt.