Niedersachsen fordert Bürokratieabbau in Kliniken

In einem gemeinsamen Appell an den Bund im Rahmen einer Pressekonferenz fordern Niedersachsens Gesundheitsminister Dr. Andreas Philippi, die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft (NKG) und die Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN), die Bürokratielast zu senken und durch Entlastungen Ressourcen für die Patientenversorgung freizusetzen.

Kritik und Forderung bauen auf einer repräsentativen Befragung zur aktuellen Bürokratiebelastung der Versorger auf, die das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) im Sommer dieses Jahres durchgeführt hat. Ärzte und Pflegekräfte in den deutschen Krankenhäusern verbringen im Schnitt fast drei Stunden ihrer täglichen Arbeitszeit mit Dokumentationsaufgaben und Nachweispflichten. Aus dem erhobenen Zahlenwerk schließt das DKI auf mehr als 100.000 Vollzeitstellen im Pflegedienst der Allgemeinkrankenhäuser, die rechnerisch zugunsten fachfremder Anforderungen für Aufgaben abseits des Patienten zur Verfügung stehen. Bei Ärztinnen und Ärzten wären es immer noch circa 60.000. Die Dokumentation hat sich von einer notwendigen Nebentätigkeit zu einer extremen Belastung entwickelt.

Als besonders zeitaufwändig und gleichzeitig vorteilsarm für Patienten werden die Bearbeitung von Anfragen des Medizinischen Dienstes (MD) oder auch die Erfüllung von Nachweisen und Checklisten zur internen und externen Qualitätssicherung genannt – zwei Punkte einer sehr umfangreichen Liste angeführter Dokumentationspflichten. Hoher Aufwand entsteht zudem durch mehrfache und redundante Datenerfassung, die sich durch konsequente Digitalisierung, beispielsweise den Ausbau von Schnittstellen, vermeiden ließe.

Bürokratie in der Waagschale

Ordnungsliebend und gut organisiert: In Deutschland charakterisiert die Bürokratie Abläufe und Verwaltung. Mit einzelnen Vorteilen wird kokettiert, dennoch stehen die negativen Seiten häufig im Vordergrund – oder werden dorthin gehoben: überbordender Aufwand, unnötige Hürden und gehemmter Fortschritt. Blickt man offen auf die Bürokratie, sorgt sie für Verlässlichkeit und schafft Vertrauen, auch in klinische Abläufe. Sie lässt Strukturen entstehen und fördert ein ebensolches Vorgehen. Die Mehrbelastung einer Organisation wird durch Effizienz in ihren Abläufen ausgeglichen; subjektiv sicher weniger als objektiv. So ist Datenerhebung immer Aufwand, Datenfinden oft unbemerkte Erleichterung.

Eine niedergelassene Ärztin nutzt das POLAVIS Patientenportal.

Die niedersächsische Initiative zum Bürokratieabbau begründet sich durch das Ausmaß der aktuellen Belastung, weist allerdings zu Recht auch auf Strahlkraft und abträgliche Folgen hin, die in der Interpretation seitens DKI angeführt werden: Versorger erwarten, dass Fachkräfte aufgrund der bürokratiebegründeten Patientenferne ihr Berufsfeld verlassen und sich zudem weniger Fachkräfte bewerben. Eine Reduktion von Dokumentationsaufgaben und Nachweispflichten bei ärztlichem Personal und Pflegekräften würde dort den bestehenden Mangel auch ohne Aufbau deutlich mindern und Zeiten für unmittelbare Versorgungsaufgaben freisetzen beziehungsweise die Patientenversorgung verbessern.

Folgt man dem veröffentlichten Fazit der DKI-Umfrage und aus Niedersachsen, ist die Bürokratie im Gesundheitswesen inzwischen weit aus dem Gleichgewicht und grundsätzlich fern des Leistungskerns. Sie ist im Krankenhaus mittlerweile so aufwendig, dass sie – wie angeführt – direkt und indirekt massiv zulasten der für die Patientenversorgung verfügbaren Zeiten geht. Es gilt, zu vereinfachen anstatt immer neue Anforderungen aufzustellen. Aufwand und Nutzen müssen an der Situation in den Kliniken und Krankenhäusern bewertet werden; gleichzeitig könnten insbesondere bürokratische Aufgaben digitalisiert und automatisiert werden.

Forderungen in Richtung Berlin

Die Stimmen aus Niedersachsen um Gesundheitsminister Philippi schlagen eine stärkere Bürokratiefolgenabschätzung seitens des Gesetzgebers sowie das Vorantreiben der Digitalisierung vor, um Bürokratielasten gezielt zu vermindern. Sie appellieren an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, ein bereits vor Monaten in Aussicht gestelltes Gesetz zum Bürokratieabbau im Gesundheitswesen schnellstmöglich auf den Weg zu bringen. Bereits im vergangenen Jahr wurden in Niedersachsen Vorschläge und konkrete Forderungen zum Abbau vorgestellt und dem Minister übermittelt.

„Wir brauchen wieder mehr Vertrauen in die Leistung der Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken. Mehr Vertrauen ist gleich weniger Komplexität“, sagt Philippi. „Alle bestehenden und geplanten Dokumentations- und Nachweisverpflichtungen müssen auf den Prüfstand. Eine Bürokratiefolgenabschätzung vor jedem neuen Gesetz muss Standard bei jeder neuen Verordnung und jeder neuen Richtlinie sein. Außerdem müssen wir bestehende und verfügbare Daten stärker nutzen, anstatt die Krankenhäuser mit ständig neuen Anforderungen zu belasten.“

NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke ergänzt: „In Zeiten des Fachkräftemangels sollten wir eine Verschwendung von Arbeitskraft, die dringend im OP und am Krankenbett gebraucht wird, vermeiden. Durch eine konsequente Entbürokratisierung können wir das Fachkräfteproblem deutlich entschärfen.“ Die Präsidentin der ÄKN, Dr. Martina Wenker, findet: „Gerade in einer Zeit begrenzt zur Verfügung stehender Geldmittel müssen wir klug, zielgenau und verantwortungsvoll mit den Ressourcen umgehen. Deshalb ist es umso wichtiger, die überbordende Kontrollbürokratie zurückzufahren, die für Patientinnen und Patienten keinen Mehrwert bietet. Wir können jeden Cent nur einmal ausgeben und da muss die bestmögliche unmittelbare Gesundheitsversorgung der Bevölkerung oberste Priorität haben.“

Immer neue spezifische Fragestellungen an Krankenhäuser – wie der Klinikatlas und das Medizindatenforschungsgesetz – und andere Aufgaben belasten das System. Allgemeinwirtschaftliche Themen stellen die Versorger vor zusätzliche Herausforderungen wie die Anforderungen des Lieferkettengesetzes oder die Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten. Gegenfinanziert wird dies aktuell nicht – alles kostet Zeit und Geld, die fehlen, und geht zulasten der Motivation der Mitarbeitenden. Die Gesundheitsanbieter sowie die Nutznießer attestieren laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage dem Gesundheitssystem großen Reformbedarf – zwei Drittel der Deutschen halten Reformen im Gesundheits- und auch im Pflegesektor für notwendig, mehr als die Hälfte der Befragten setzt sogar auf eine umfassende Reform.