Das Gesundheitswesen in Deutschland umfasst unter anderem Organisationen, deren Aufgaben Förderung und Erhalt der Gesundheit sowie deren Sicherung durch Prävention sind. Damit nehmen Arbeitgeber eine Schlüsselrolle in diesem System ein, sind sie doch ihren Mitarbeitern gegenüber gesetzlich zum Schutz verpflichtet. „Es gibt regelrechte Leuchttürme unter ihnen, die das Thema Gesundheit ganzheitlich angehen“, beantwortet Florian Kramer, Gründer und CEO von Lene Health, die Frage nach dem Entwicklungsstand der Arbeitgeberlandschaft. „Es gibt jedoch viel zu wenige dieser positiven Ausnahmen. Das liegt auch an der fehlenden Differenzierung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern: Wer fühlt sich für die Gesundheit verantwortlich und wer ist der Verantwortliche? In der Theorie wird oft von Arbeitgeberfürsorge gesprochen. In der Praxis sind Arbeitnehmer dann aber auf sich allein gestellt, bzw. werden sie alleingelassen, weil es sich um vermeintlich private Probleme handelt. Es besteht jedoch ein enger Zusammenhang zwischen Arbeitnehmergesundheit und Gesundheit des Unternehmens. Wird dieser Zusammenhang akzeptiert, ist das ein großer Schritt. Es geht nicht nur um den schönen Schein – ein betriebliches Gesundheitsmanagement muss ein strukturierter Prozess sein, der dem Bedarf entspricht und dann auch eine Veränderung bewirkt.“

Der Trend zunehmender psychischer Belastung der Arbeitnehmer bzw. zunehmender Auswirkungen auf deren Arbeitsfähigkeit zeigt sich schon lange und ist von verschiedenen Seiten fundiert beschrieben und dokumentiert. „Die Pandemie hat jedoch für einen dramatischen Anstieg dieser Belastung gesorgt“, blickt Florian Kramer auf die Veränderungen der letzten Jahre, denn auch hier haben die abrupten Eingriffe in das Arbeitsleben tiefe Spuren hinterlassen. „Die Ursachen liegen möglicherweise in der Loslösung von vorher sehr klaren und beständigen Strukturen im Arbeitsumfeld. Gerade im Homeoffice kann dieser Wegfall dann bis zur Verwahrlosung führen. Mit der Zunahme der Belastung geht eine erhöhte Aufmerksamkeit für mentale Gesundheit einher. Einfach beschrieben ist mental gesund, wer sich wohlfühlt und seine Leistungsfähigkeit ohne Einschränkungen durch beispielsweise Stress oder Ängste entfalten kann. Leider sind die Beeinträchtigungen der physischen Gesundheit deutlich sichtbarer: Bein gebrochen, Nase läuft – diese Symptome sind auf Anhieb zu erkennen. Bei der mentalen Gesundheit sind eher der interindividuelle Vergleich mit der eigenen Leistungsfähigkeit über die Zeit und die Feststellung entscheidend, dass man nicht mehr kann, was man konnte.“

Fokus auf mentale Gesundheit

Kramers Großmutter – Oma Lene, die sich stets um das Wohlbefinden ihrer Familie und ihrer Mitmenschen kümmerte – war Namenspatin für Lene Health. Mit dem Unternehmen zielt Florian Kramer auf die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz ab und damit auf einen Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements aus dem Bereich der Arbeitssicherheit. „Wir helfen Unternehmen dabei, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Das ist seit 2013 gesetzlich vorgeschrieben. In der Realität wird es aber unzureichend oder einfach gar nicht umgesetzt. Unternehmen fehlen häufig die Zeit, die notwendigen Fertigkeiten und leider oft entsprechende Anreize, um die Vorgaben umzusetzen“, beurteilt der Experte nüchtern den aktuellen Standard in Unternehmen. „Wir sprechen mit der Personalabteilung und in größeren Unternehmen mit jemandem, der für Arbeitsschutz und -sicherheit zuständig ist, alternativ mit Corporate-Social-Responsibility-Managern, soweit das in deren Zuständigkeitsbereich fällt. Im laufenden Dialog sprechen wir dann auch den Betriebsrat an.“

Angebote müssen Mitarbeiter erreichen

Die psychische Gefährdungsbeurteilung ist für den Mitarbeiter zunächst einmal ein schwieriges Konstrukt. Häufig besteht die Erwartung, von einem Psychologen in eine Kategorie gesteckt zu werden. Dort sollten Arbeitgeber ansetzen und deutlich machen, dass nur der Arbeitskontext betrachtet wird. Es zählen die Belastung durch die Arbeit und in weiteren Schritten dann die Bedeutung dieser Beanspruchung für Mitarbeitende. Es geht um eine Möglichkeit, ganz transparent aufzuzeigen, in welchen Bereichen Probleme bestehen und wie Mitarbeiter im Arbeitskontext aufgestellt sind. Unternehmen können daraufhin zielgerichtet für Erleichterung sorgen.

Ein Mitarbeiter sitzt zu Hause an seinem Schreibtisch und blickt besorgt auf sein Laptop. Er hat die Hände gefaltet und trägt Kopfhörer.

Digitalisierung als Teil des Problems

Die Ursache für den deutlichen Anstieg psychischer Belastungen und der damit einhergehenden Probleme liegt auch in der zunehmenden Digitalisierung. Digitale Anwendungen stehen für eine immer größere Arbeitsverdichtung. „Das spiegelt sich in den Resultaten der Befragungen wider, die wir für unsere Kunden durchführen“, gewährt der Gründer Einblick. „Einer unserer Kunden misst seit mehr als 15 Jahren die Anzahl an produktiven Stunden. Dort zeigt sich, dass die Produktivität trotz Digitalisierung gesunken ist. Gleichzeitig sind die Mitarbeiter gestresster als früher. Dazu mögen auch andere Gründe beitragen, der Kern der Belastung ist jedoch die Vielzahl an Kanälen und Anwendungen. Im Gegenzug können wir Mitarbeiter digital zielgerichtet abholen und ihnen individuelle Lösungen in Bezug auf ihre mentale Gesundheit anbieten, die wir analog nicht anbieten könnten – bei diesen Chancen stehen wir aber noch ganz am Anfang.“

Grundsätzlich fehlen aus Sicht des Experten weitere Forschungsergebnisse, insbesondere was die langfristige Betrachtung solcher Faktoren wie der Remotearbeit angeht. Diese kann der sozialen Nachhaltigkeit zugeordnet werden: Durch den Wegfall von Wegezeiten bleiben mehr Zeit für Familie und mehr Freizeit. Zudem sorgt die oftmals damit einhergehende größere Flexibilität für mehr Selbstbestimmung. „Fehlt jedoch ein festes soziales Konstrukt als Rahmenwerk, beispielsweise die eigene Familie, kann die Remotearbeit auch Teil des Problems werden, was zu Einsamkeit und sozialer Verwahrlosung führt. Gerade hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Förderung durch Leitinitiativen und finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe ausgesprochen, um mehr für die psychische Gesundheit in Unternehmen zu tun. Damit stellt die Europäische Union sie auf eine Stufe mit der körperlichen.“

Die Umsetzung ist eine Frage der Einstellung

Die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben zur Gesundheitsprävention im Sinne einer psychischen Gefährdungsbeurteilung ist eine Frage der Einstellung. Gerade für kleine Unternehmen steht sie als weitere bürokratische Aufgabe außerhalb der Wertschöpfung und damit in der Priorisierung weit unten. Zwar gewinnt die mentale Gesundheit an Bedeutung, gesellschaftsfähig ist sie aber noch nicht. „Unternehmen erkennen für sich den Mehrwert nicht und verzichten entsprechend auf Maßnahmen, solange keine Konsequenzen drohen“, beschreibt Florian Kramer den Stand der Umsetzung nach immerhin zehn Jahren gesetzlicher Verpflichtung. „Große Unternehmen und Konzerne sind da weiter. Häufig sind Zertifizierungsprozesse und die dort geforderten Maßnahmen Grundlage für die Einführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung. Die angestrebte Zertifizierung lässt keine Wahl. Unternehmen müssen aber lernen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen gesunden Mitarbeitern und wirtschaftlichem Erfolg gibt. Stärkere Regulierung und mehr Sanktionen würden zwar ebenfalls helfen, nachhaltig ist aber nur eine Änderung der Einstellung.“

Noch ist nicht viel Gutes zu erkennen

Fragt man Florian Kramer, was im Kontext mentaler Gesundheit schon zukunftsfähig und damit schützenswert ist, erhält man eine ernüchternde Antwort: „Nichts. Da ist noch nicht viel Gutes zu erkennen. In den nächsten Jahren wird sicherlich ein größerer Anteil an Unternehmen bereit sein, in Gesundheit zu investieren und darin auch einen finanziellen Mehrwert erkennen. Das bedarf aber Zeit, da der Zusammenhang nicht so offensichtlich ist. Die Gemengelage aus Fachkräftemangel und Digitalisierungsdruck sollte hier für Anschub sorgen.“

Das ideale Szenario ist ein Angleichen der psychischen Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutz an den Bereich der klassischen Gefährdungsbeurteilungen. Letzteres ist eine klare Erfolgsgeschichte, denn Arbeitsunfälle sind auf einem historisch tiefen Niveau angekommen. „Ich würde mir wünschen, dass sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren der Gedanke einer gesunden Organisationsentwicklung manifestiert – also das Angebot langfristig gesundhaltender Arbeitsplätze. Unternehmen sollten erkennen, dass weniger Arbeitskräfte bedeuten, diese nachhaltig gesunderhalten zu müssen. Natürlich gibt es solche Unternehmen auch schon heute. Manche unserer Kunden erfüllen gesetzliche Regularien nicht nur, sondern gehen weit darüber hinaus: Stress, Monotonie, Belastungsfaktoren und mehr werden betrachtet und passende Maßnahmen umgesetzt, um Abhilfe zu schaffen und Mitarbeitende gesundzuhalten. Das empfinde ich als sehr schön, davon sollte es viel mehr geben.“