Die Notfallversorgung in Deutschland – Reformpläne, Schwachstellen und Verbesserungen

Im Gespräch mit Dr. Peter-Friedrich Petersen, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme im Klinikum Frankfurt Höchst

Wo sehen Sie momentan die größten strukturellen Schwachstellen in der Notfallversorgung?

Ich sehe hier erst einmal das gesellschaftliche Problem, das heutzutage jede körperliche Schwäche oder Funktionsstörung immer gleich als persönlicher Notfall gesehen wird. Was uns Probleme macht und jetzt auch endlich angegangen wird, sind die vielen Patienten, die nicht kritisch krank sind, die sich aber subjektiv schwer krank fühlen und die Notaufnahme und Praxen in Deutschland heftig überfüllen. Wenn ein Student nach einer heftigen Nacht oder einer nicht ganz koscheren Fischmahlzeit sich stark erbrechen muss, sucht er heute direkt die Kliniknotaufnahme auf. Früher hat er sich mit einem Tässchen Tee von Mama ins Bett gelegt.

Die Menschen halten also ihr persönliches Anliegen für zu wichtig?

Es ist ein Konglomerat. Ich stelle immer wieder erschreckt fest, wie unselbstständig junge Menschen sind. Sie googeln alles und wissen genau, was es alles für schlimme Sachen gibt. Das Problem an der Sache ist, dass wenn man ins Internet schaut und nach Husten und Brustschmerz sucht, nicht selten bei Herzinfarkt oder Lungenembolie endet. Hier wird also oft suggeriert, dass das alles sehr gefährlich ist. Die größte Gefahr dabei ist, dass derjenige, der wirklich kritisch erkrankt ist, dabei untergeht. Insbesondere, wenn er sich dabei auch noch zurückhaltend verhält. Das sind dann die wirklich gefährdeten Patienten in dieser Geschichte.

Was halten Sie von den Reformplänen der Regierung, insbesondere in Bezug auf die geplanten gemeinsamen Notfallleitstellen, den INZ’s und der telefonischen Ersttriage?

Nummer 1: Integrierte Leitstellen, gemeinsame Notfallleitstellen finde ich sinnvoll. Wir müssen auf diese Masse an Patienten in der Notfallversorgung reagieren, sonst laufen sie uns weiter die Notaufnahmen ein. Da hat die Regierung jetzt auch reagiert und das ist auch für vernünftig. Wie man ein integriertes Notfallzentrum am besten aufbaut, da scheiden sich die Geister. Eine Möglichkeit ist der bei uns im hessenweiten Modellprojekt erprobte gemeinsame Tresen, an dem bei den Patienten, die uns zu Fuß aufsuchen, entschieden wird, wie stark der Patient erkrankt ist und ob er in den ambulanten Sektor oder in das Krankenhaus geleitet wird. Das ist ein integriertes Notfallzentrum „light“, in welchem eine Kliniknotaufnahme mit einem ärztlichen Bereitschaftsdienst mit einer gemeinsamen Anmeldung zusammenarbeitet. In Höchst haben wir damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Das wird ja im Augenblick bundesweit vorgestellt. Ich weiß nicht wie viele Vorträge ich im letzten Jahr zu diesem Thema gemacht habe, weil es für viele interessant ist und einige das kopieren wollen.

Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Es gibt auch Forderungen nach einem integrierten Notfallzentrum als tertiärem Bereich. Dass man sozusagen zwischen Notaufnahme und den niedergelassenen Kollegen noch eine weitere Struktur schafft, in dem Patienten bis zu 24 Stunden behandelt werden können, zwischenzeitlich zur medizinischen Versorgung auf die Liege oder ins Bett gelegt werden können, Infusionen erhalten usw. Da bin ich etwas zurückhaltend. Denn letztendlich schaffen wir darüber eine neue Struktur und dafür braucht man dann auch zusätzliches, administratives Personal. Dann hat man wieder relativ viel investiert, um die gleiche Arbeit zu machen, die es in den jetzigen Strukturen mit einer vernünftigen Zusammenarbeit, wie wir dies praktizieren, auch funktionieren könnte. Die einzige, die wir extra finanzieren, ist die medizinisch geschulte Fachkraft, die vorne sitzt und entscheidet, ob man in den ärztlichen Bereitschaftsdienst kommt oder in die Notaufnahme der Klinik.

Dr. Peter Friedrich Petersen Chefarzt der Zentralen Notaufnahme im Klinikum Frankfurt Höchst ueber Notfallversorgung in Deutschland

Sind Sie sozusagen Pionier mit dieser Lösung?

Ich weiß jetzt nicht, ob es anderswo in Deutschland ein Projekt mit so einem gemeinsamen Tresen über längere Zeit auch schon gab. In Hessen werden wir zusammen mit der KV Hessen als Modellprojekt des Landes gefördert. Ich kann nur immer wieder betonen, dass die Zusammenarbeit mit den Kollegen sehr gut ist. Diese Ersteinschätzungsstelle hat sich bewährt. Wir haben gemeinsam einen Katalog erarbeitet, auf deren Basis über die in dem Fall richtige Versorgungsebene entschieden wird: also ärztlicher Bereitschaftsdienst oder Notaufnahme der Klinik. Das ist eine Art lernendes System. Natürlich gibt es da mitunter verschiedene Auffassungen, wenn z. B. der Notaufnahmedoktor sagt, dass der Patient ja erst mal in den Bereitschaftsdienst hätte gehen sollen und der Arzt im Bereitschaftsdienst meint, der Patient sollte direkt in die Notaufnahme. Aber 94 % der Steuerung in dem bei uns entwickelten System ist richtig und letztendlich werden ja trotzdem alle Patienten von einem Arzt behandelt.

Was halten Sie von einer telefonischen Ersttriage?

Die ist natürlich schwieriger, weil ich den Patienten dabei nicht sehe. Es gibt Menschen, die bagatellisieren, und es gibt Menschen, die übertreiben. Wenn sie einen Patienten sehen, der vor ihnen mit blauen Lippen steht und erkennbar schlecht Luft bekommt und sagt, das geht alles noch. Dann wissen sie, ok das geht eben nicht. Wenn sie aber einen Patienten vor sich haben, der ganz laut schreit und sagt, dass er keine Luft bekommt, dann wissen sie, alleine schon wegen der Lautstärke, dass er Luft bekommt. Hier gibt es viele, die schon mal übertreiben. Das liegt in der persönlichen Struktur der Menschen. Wenn sie wollen, dass der Notarzt kommt, müssen sie nur die Worte Brustschmerz und Luftnot in den Mund nehmen, wenn sie 112 anrufen. Dann bekommen sie direkt den Notarzt hinterhergeschickt. Es gibt gewisse Kreise, die wissen das. Dass der Notarzt jetzt 500 oder 600€ extra kostet, das ist denen egal. Und dann gibt’s welche, die scheuen sich und sind zurückhaltend, weil es bisher immer noch gut ausgegangen ist. Diese Problematik bekommt man mit einer telefonischen Ersttriage nicht 100%ig in den Griff. Allerdings möchten viele Patienten, die anrufen, erst einmal beraten werden. Gestern hatte ich so eine Anfrage, da hatte jemand ein Stück Kuchen mit Schimmel gegessen und wollte wissen, ob er in die Klinik kommen muss, erbrechen oder zwei Schnaps trinken soll? Ich habe gesagt, dass können sie machen, sie können es aber auch sein lassen, Magensäure reicht hier völlig aus. Für solche Fälle wäre die telefonische Ersttriage hervorragend. Da man den Patienten nicht sehen kann, wird man in der telefonischen Ersttriage allerdings immer vorsichtiger sein müssen.

Was halten Sie von SmED und ist die Verwendung von Algorithmen der richtige Weg für eine Erstbewertung der Behandlungsdringlichkeit der Patienten und eine effiziente Lastenverteilung in der Notfallversorgung?

Das ist ja im Grunde genau das, was die Schweizer machen. Es ist nicht schlecht, aber uns hilft es jetzt nicht wirklich, weil es soweit ich weiß 7 Minuten dauert. Wenn sie sich vorstellen, dass 120 Leute am Tag reinkommen, haben Sie eine Schlange, die sich um das ganze Gebäude wickelt. Ab einer gewissen Zahl von Patienten ist das meiner Meinung nach nicht mehr praktikabel. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass es in gewissen Szenarien helfen kann. SmED sind Algorithmen, die versuchen die richtigen Fragen zu stellen. Bekommen sie richtig Luft, haben sie Brustschmerzen und je nach Antwort wird dann weiter nachgefragt. Es geht darum, diejenigen zu identifizieren, die rasch zum Arzt müssen. Es muss also eine Einschätzung erfolgen, ob eine Sofortbehandlung mit Notarzt notwendig ist, eine aufgeschobene Behandlung oder eben auch eine Eigenbehandlung ausreicht.

Wie können die Potenziale der Digitalisierung besser für die Notfallversorgung genutzt werden bzw. welches digitale Tool würden Sie sich für eine Notfallversorgung der Zukunft wünschen und welche Funktionen sollte es beinhalten?

Was ich mir manchmal wünsche, wäre ein Trikorder wie im Raumschiff Enterprise, den man über den Patienten hält und die komplette Diagnose rausbekommt. Aber Gott sei Dank ist das dann doch noch in weiter Ferne, denn dann wäre der Arzt mehr oder weniger obsolet. An sich haben wir ja schon vieles. Ich habe eine grafische Darstellung der Triage, ich kann sehen, wie viele Patienten momentan in der Notaufnahme sind, welcher Patient welche Dringlichkeit hat. Hier hilft uns die EDV schon sehr. Die Entscheidung nach der Dringlichkeit ist letztlich eine menschliche. Ich bezweifle, dass man nur mit KI (Künstlicher Intelligenz) diese Einschätzung so gut hinbekommt. Ich bin so ein Typ, der auch bei einem Bankgeschäft lieber zu einem Menschen geht, als dass ich alles nur elektronisch mache. Aber, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich glaube, wir kommen letztlich an einer KI nicht vorbei, aber irgendwo hat diese auch Grenzen. Wenn ich an den Telenotarzt denke, passiert hier schon vieles. Die Uni-Klinik Aachen war hier der Vorreiter. Hier wurden Kameras in die Rettungswägen gehängt, sodass der Notarzt von der Leitstelle die Patienten von der Ferne aus schon einmal beurteilen kann, um eventuell noch einen Arzt hinterherzuschicken. Die Frage bleibt hier, was man tut, wenn Fehler passieren. Wenn wir von SmED sprechen, müssen wir uns bewusst sein, dass diese Ersteinschätzungssysteme auch Fehler machen werden. Es wäre illusorisch sich in die Tasche zu lügen, dass das immer 100%ig klappen wird. Es ist alles immer schön, bis ein Fehler auftritt und dann wird ein Schuldiger gesucht. Und dann kommt die Frage, wie man damit umgeht. Wer kümmert sich darum, wer fühlt sich verantwortlich, wer entschädigt?

Welche Verbesserungen wünschen Sie sich für die Zukunft und wofür setzen Sie sich besonders ein?

Von meinen Patienten wünsche ich mir ein bisschen mehr Geduld. Es immer wieder faszinierend zu sehen, wie wenig Zeit viele Patienten für die medizinische Behandlung mitbringen. Mein Hauptwunsch wäre allerdings eine bessere Finanzierung der Notfallversorgung, aber auch der Medizin insgesamt. Für mich ist Medizin eine zutiefst soziale Tätigkeit und wir bilden Medizin immer mehr betriebswirtschaftlich ab. Das finde ich problematisch. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr zum Medizinischen als Leitmotiv für unser Handeln kommen und dass die Finanzierung der guten Medizin folgt. Im Augenblick nehme ich wahr, dass es doch vielfach anders ist. Ich sehe, dass viele gute Kliniken finanzielle Schwierigkeiten haben und wünsche mir hier wieder eine sozialere Medizin.

Gibt es Aussichten, dass dies auch passieren wird?

Nein, die letzten 20 Jahre ist genau das Gegenteil passiert. Ich werde aber nicht müde, das immer wieder zu sagen und zu fordern. Gesundheit ist ein hohes Gut, Gesundheit ist Lebensfürsorge und das heißt für mich, dass der Staat hier auch durchaus eingreifen darf. In dieser Beziehung habe ich eher eine sozialistische Ader. Dem einen oder anderen muss ich in der Notaufnahme auch mal erklären, dass ein Privatpatient nicht deshalb schneller behandelt wird, weil er Privatpatient ist, sondern höchstens, weil er kränker ist als ein anderer. In der Notaufnahme sehen wir das sehr medizinbezogen. Ich kann und will das gar nicht mit meinen Ethos vereinbaren, dass ein Patient besser behandelt wird, nur weil er eine bessere Versicherung hat.