Zukunft Krankenhaus – Digitaler Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen

COVID-19, neue Regularien des Gesetzgebers und Digitalisierungsdruck – die Rahmenbedingungen unter denen Krankenhäuser Versorgungssicherheit gewährleisten müssen, ändern sich aktuell disruptiv. Der gesteigerte Versorgungsbedarf und sich ändernde gesellschaftliche Anforderungen treffen auf schwindende Ressourcen. Krankenhäuser befinden sich im Konflikt zwischen der Lösung von akuten (finanziellen und strukturellen) Problemen und der langfristigen Sicherung von Markenattraktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Wie gelingt den Häusern die Transformation in eine zukunftsfähige Versorgungswelt? Welche Megatrends und Geschäftsmodelle werden sich durchsetzen? Maximilian Nägele, Geschäftsführer Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin, im Interview mit POLAVIS.

Im Interview: Maximilian Nägele, Geschäftsführer Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin

Der Druck zur Digitalisierung steigt auch für Krankenhäuser. Wieviel Gestaltungsspielraum und Zeit bleibt für aktuelle Projekte?

Leider oftmals zu wenig. Es gibt grundsätzlich viele Ideen für innovative Projekte, die aber nicht immer stringent genug verfolgt werden können, weil die Umsetzung oftmals nur nebenbei funktionieren kann. Meist gelingt dies nur durch den persönlichen Einsatz von Mitarbeitern, welche sich mit einzelnen Themen befassen und forciert vorantreiben. Oft haben wir auch nicht den finanziellen Spielraum, um ganze Teams für einzelne Projekte freizustellen. Das ist im Moment leider die Situation.

Wer engagiert sich für IT-Projekte? Sind es primär MitarbeiterInnen aus der IT oder den Fachbereichen?

Teilweise Mitarbeiter aus der IT, aber auch Ärzte oder Pflegemitarbeiter. Das medizinische Personal hat den Blick auf die konkreten Prozesse und macht uns darauf aufmerksam, wo (Schnittstellen-) Probleme sind bzw. Arbeitsschritte eingespart und Entlastungen geschaffen werden können. Die IT kommt häufig erst nach der Entwicklung von Ideen ins Spiel. Ich sehe darin eine wichtige Entwicklung. Ideen müssen verstärkt von Seiten der Medizin kommen, die IT gestaltet mit, unterstützt und verantwortet aber vor allem die Umsetzung.

Wie sollten digitale Lösungen eingesetzt werden, um Patientenbedürfnisse und Mitarbeiterentlastung gleichermaßen zu stärken?

Man muss immer erst den Status Quo betrachten und analysieren, wie Prozesse aktuell gestaltet sind. Es ist zudem wichtig, die Bedürfnisse des Patienten im Fokus zu haben und zu berücksichtigen. Dann kann entschieden werden, wie man durch Digitalisierung die bestmögliche Unterstützung für Medizin und Pflege auf den Stationen und in den Ambulanzen schaffen kann. Ziel sollte es sein, alle Beteiligten, welche am Patienten arbeiten, von unnötigen Arbeiten zu befreien, damit sie sich mehr auf den Patienten fokussieren können.

Der Fachkräftemangel wird auch in Zukunft weiter zunehmen und zusätzlich durch die Pandemie verstärkt. Viele tausende Menschen haben den Beruf bereits verlassen. Wenn an dieser Stelle nicht zeitnah spürbare Veränderungen für die Mitarbeiter eintreten und Digitalisierungsmaßnahmen sowie Prozessveränderungen greifen, wird dies zwangsläufig zu einem Risiko in der Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser führen.

Maximilian Nägele im Interview mit POLAVIS

Müssen sich Arbeitsmodelle und Prozesse in den Kliniken für alle Dienstarten ändern, um die Versorgungsleistung in Zukunft überhaupt noch erbringen zu können?

Es gibt Bereiche, für die sich Arbeitsmodelle sehr gut anpassen lassen. Dies betrifft Bereiche und Mitarbeiter, die nicht direkt am Patienten arbeiten, beispielsweise in der Administration oder Verwaltung. Hier bestehen gute Möglichkeiten für Mitarbeiter auch im Home Office zu arbeiten, ohne dass die Qualität leidet oder Verluste entstehen.

Es gibt aber auch zunehmend Bereiche außerhalb der Administration, wo Änderungen der Arbeitsmodelle denkbar sind. Beispielsweise ist es in der Diagnostik schon teilweise möglich, dass Ärzte von zuhause aus befunden. In Bereichen wie der Pathologie, was als Fach auch immer mehr mit einem Fachkräftemangel zu kämpfen hat, können solche Maßnahmen auch dazu beitragen, den Beruf wieder attraktiver zu machen und Möglichkeiten zu bieten, Familie und Beruf besser zu vereinen. Das primäre Ziel sollte es aber sein, Personal auf den Stationen und in den Ambulanzen durch digitale Prozesse und effizientere Workflows weitestgehend zu entlasten. Tätigkeiten, die am Patienten stattfinden, werden wir nicht durch andere Arbeitsmodelle abbilden können.

Die Leistungserbringer fokussieren sich weiter, um wirtschaftlich zu arbeiten. Welche Netzwerk- und Interaktionsformen sichern den Erfolg einer guten Zusammenarbeit und Kommunikation – analog wie digital?

Als universitärer Maximalversorger in Tübingen haben wir auf der einen Seite natürlich die Aufgabe Hochleistungsmedizin zu erbringen. Gleichzeitig sind wir auch Zentralversorger für die Region. Das stellt uns vor gewisse Herausforderungen und ist ein Spannungsfeld, auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit. Da auch die Situation der umliegenden Krankenhäuser nicht besser wird, ist es meiner Meinung nach unerlässlich zukünftig auf Versorgungsnetzwerke zu setzen. Digitalisierung ist dafür die Voraussetzung, um am Schluss die bestmögliche Versorgungsqualität für die Patienten gewährleisten zu können, egal in welchem Krankenhaus sie sich befinden.

In Tübingen gibt es ein solches Netzwerk z.B. im Bereich der Intensivmedizin. Auf diese Weise können Mediziner des UKT an der Behandlung von Patienten anderer Krankenhäuser beteiligt sein und deren Expertise in Form von Behandlungsempfehlungen entsprechend einbringen. Da sich der Fachkräftemangel weiter verschärfen wird und eine entsprechende Expertise nicht mehr überall vorgehalten werden kann, werden entsprechende Netzwerkstrukturen die Zukunft sein. Auf der anderen Seite glaube ich, dass wir auch nicht auf den analogen Kontakt zu anderen Leistungserbringern, beispielsweise zu den niedergelassenen Ärzten, z.B. in Form von Vor-Ort-Besuchen und Informationsveranstaltungen verzichten können. Vertrauen kann sich nur durch einen persönlichen Kontakt aufbauen. Am Ende wird die Mischung entscheidend sein.

Welche Digitalisierungsthemen werden in den nächsten 3-5 Jahren die größten Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben?

Die eierlegende Wollmilchsau, ein Krankenhausinformationssystem, welches all unsere Wünsche und Bedürfnisse erfüllt, wird es nicht geben.

Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) könnte einen größeren Ruck in Richtung Digitalisierung bringen. Das KHZG birgt viele gute Möglichkeiten und Lösungen, die Gesundheitsversorgung in Deutschland voranbringen zu können.
Auch die Digitalisierung der Diagnostik beinhaltet meiner Meinung nach große Potenziale für effizientere Prozesse und bessere Kooperation. Ebenfalls werden Plattformen und Datenbanken, die auch dezentral mit Informationen gefüttert werden können, eine bedeutende Rolle spielen, v.a. im Hinblick auf personalisierte Medizin. Voraussetzung dafür ist das Vorhandensein einer geeigneten digitalen Infrastruktur. Die Datenmengen werden stetig zunehmen – die daraus gewonnenen Informationen und Erkenntnisse, auch im Hinblick auf die Forschung und Weiterentwicklung von Therapien, ermöglichen sehr viel. Die Voraussetzung hierfür ist eine funktionierende Infrastruktur.

Status Quo im KHZG Beantragungsprozess

Werden KI-basierte Daten tatsächlich schon in 5 Jahren für Medizin und Forschung zur Verfügung stehen?

Es gibt bereits Datenbanken, beispielsweise im Bereich der Onkologie, die mit einer Vielzahl verschiedenster Daten gespeist sind und aus denen personalisierte Behandlungsmodelle abgeleitet werden können. KI wird in Teilen bereits in Bereichen der Diagnostik eingesetzt und es gibt viele Ideen, wie KI bei der individuellen Therapieempfehlung mitwirken kann. Ob die Entwicklung schon in fünf Jahren soweit sein wird, dass KI dann in den verschiedensten Bereichen der Patientenversorgung ein fester Bestandteil sein wird, ist schwer vorherzusagen,  aber die Voraussetzungen sind definitiv vorhanden.

Ich denke, dass auch die Politik ihren Teil beitragen muss. Ohne entsprechende politische Rahmenbedingungen für digitale Transformation, werden es die Häuser auf sich allein gestellt nicht schaffen. Es braucht ein Zusammenspiel von klaren politischen und für die Gesundheitsversorger entgegenkommenden Rahmenbedingungen sowie von intrinsischer Motivation und dem Bewusstsein für Veränderung auf Seiten der Kliniken.

Wie ist die Grundstimmung gegenüber den Themen, die aktuell im Rahmen des KHZG gefördert werden?

Grundsätzlich positiv, weil der Wandel nun aktiv mitgestaltet werden kann. Wir möchten vorne dabei sein und nicht warten, bis andere Lösungen implementiert und getestet haben.

Wer Arbeitsbedingungen wirklich verbessern möchte, muss am Ball bleiben und nicht warten, bis eine passende Lösung um die Ecke kommt.