Gemeinsame Vorstellungen von Konzepten digitaler Gesundheit existieren im Gesundheitswesen seit langem, ausgeprägt in griffigen Anglizismen wie ‚Digital Health‘ und ‚eHealth‘. Inspiriert durch ihre Erfolge im Bereich der Virtual Reality (VR) haben Stefan Thomsen und Finn Ole Peters eine Wortschöpfung im eigenen Sinne ergänzt: ‚vHealth‘, die virtuelle Gesundheit. Aktuell arbeiten die beiden Gründer daran, diesen Begriff auszudehnen und mit Kundenwert zu füllen.
Thomsen kommt aus dem Gesundheitsbereich, hat eine Physiotherapie-Ausbildung absolviert und sich anschließend in Richtung Sport- und Gesundheitsmanagement orientiert. Aus der Arbeit mit älteren Menschen kennt er die Folgen neurologischer Erkrankungen oder kognitiver Einschränkung. „Man spürt das Bedürfnis nach Teilhabe, nach Aktivierung und den Wunsch nach Lebensfreude. Besonders dann, wenn Mobilität oder Gesundheit eingeschränkt sind“, schildert Stefan Thomsen seine Motivation. „Finn Ole und ich kennen uns seit Kindertagen. Er führt ein großes Busunternehmen und während der Pandemie hat er begonnen, Reiseziele mit einer 360-Grad-Kamera zu dokumentieren, um Kontaktbeschränkung und Lockdown mit virtuellen Reiseangeboten zu begegnen. Aus der Überzeugung heraus, dass virtuelle Erlebnisse ein noch größeres Thema sind, haben wir im vergangenen Jahr vJourney gegründet, um die virtuelle Realität emotionale Brücken bauen, Erinnerungen wecken und Einsamkeit lindern zu lassen.“
Ganz einfach virtuell erleben
Wer aufgrund von Umständen zu Hause bleiben muss, erlangt dank virtueller Reiseerfahrungen wieder das Gefühl, unterwegs zu sein, gewinnt neue Eindrücke und durchlebt zugehörige Emotionen, die sonst unerreichbar wären. Im April saß der Demenzexperte Prof. Klaus Fließbach auf dem roten Sofa des NDR und beschrieb die positiven Effekte des vJourney-Ansatzes: „Wir wurden porträtiert, das Reiseangebot wurde vorgestellt und Prof. Fließbach hat unsere virtuellen Reisen wörtlich als ‚exzellent‘ für den Anwendungsfall bezeichnet“, freut sich Thomsen. „Wer noch selbst reisen kann, sollte das tun. Wem das verwehrt ist, dem bieten wir die virtuelle Realität. Zugkraft kommt sogar aus der anderen Richtung: Für Destinationen ist Barrierefreiheit ein großes Thema. Auf Kundenwunsch filmen wir besondere Orte; das kann das historische Schloss ohne Fahrstuhl sein, das per VR-Brille einen Blick hinter die Barrieren bieten möchte.“
Die Plug-and-Play-Technik ist denkbar einfach: VR-Brillen benötigen weder Daten noch Internet oder Controller – nur einschalten und es geht direkt los. Zuletzt konnten sich die beiden Freunde über die Postkarte einer fast hundertjährigen Kundin freuen, die ihre virtuelle Reise allein gemeistert und sich mit schriftlichem Gruß dafür bedankt hat. Auch das Gesundheitswesen geht das junge VR-Unternehmen erfolgreich an: „Viele Krankenhäuser oder auch Reha-Zentren greifen mittlerweile aufgrund der positiven gesundheitlichen Nebenwirkungen auf unser Kernprodukt Reise zurück. Denkbar sind auch VR-Anwendungsfälle wie beispielsweise Expositions-, Schmerz- oder die Begleitung von Chemotherapien. Weniger naheliegend ist ein VR-Betätigungsfeld, das den vHealth-Leistungen immer häufiger die Türen der Gesundheitsversorger öffnet: Onboarding“, gewährt der Gründer Einblick. Die Einarbeitung neuer Mitarbeitender bindet Ressourcen, die oft sowieso schon fehlen. Ist der Bogen geschlagen, sind virtuelle Onboarding-Programme plötzlich naheliegend. „Der Ansprechpartner einer Reha-Klinik wollte von uns wissen, ob wir anstelle eines Reiseziels auch seine Einrichtung virtualisieren könnten. Es ging um die Entlastung des Personals bei der Anleitung neuer Patienten. VR-Technologie leistet jetzt, wofür zuvor erfahrene Patienten mit Kaffee-Gutscheinen entlohnt wurden: neue Patienten mit Räumlichkeiten und Abläufen vertraut machen. Das war die erste Anfrage für virtuelles Onboarding, der Rest ist Geschichte.“

Erstellung überraschend einfach
Patienten, Praktikanten, Personal – der Einarbeitungsaufwand lässt sich per VR-Brille deutlich reduzieren und der Inhalt sprachübergreifend anbieten. „Gerade Pflegekräfte zu gewinnen, ist ein Kraftakt. Bei der Altenpflege in Nürnberg haben wir in Gesprächen über die hohen Werbekosten gestaunt: Kandidaten aus Vietnam werden für eine Woche nach Deutschland geholt, die Einrichtung stellt sich vor und anschließend entscheiden sich die Bewerber. Ist die VR-Brille im Gepäck, können sich Interessenten in Ruhe alles ansehen, wichtige Personen vorab persönlich kennenlernen und bereits in Asien einen umfassenden Eindruck erhalten“, klärt Thomson auf. „In Schulungen steckt ebenfalls Potenzial. Abläufe können dargestellt und Objekte eingebunden werden: Wie lege ich beispielsweise ein Skalpell auf dem OP-Tisch ab? In welchem Winkel reiche ich es richtig an? Wie lässt sich die OP-Lampe bewegen? Möglichkeiten, die bereits vielfach am Markt sind – allerdings von anderen. Aufgrund der Anbieterdichte liegt unser Fokus auf anderen Aspekten.“
Wer großen Erstellungsaufwand erwartet, wird überrascht sein: Mit einer 360-Grad-Kamera sind Szenerien innerhalb nur einer Minute im Kasten. Die geplanten Stationen werden einzeln abgefilmt und in der Nachbearbeitung Lehrinhalte eingebaut. „Wir erstellen vorab in Absprache ein Konzept und prüfen die Gegebenheiten vor Ort – als Grundlage dienen Handbücher für die Einarbeitung oder ein dediziertes Wissensmanagement, andernfalls übernimmt eventuell ein Werksstudent die Zusammenstellung –, denn je besser die Planung, desto schneller die Umsetzung. Texte finalisieren wir später auf Basis der Videomaterialien, so bleiben wir flexibel. Stehen Inhalte und Ansprechpartner zur Verfügung, schließen wir Projekte in vier bis sechs Wochen ab.“
Krankenhäuser neugierig und offen für Neues
In der Zusammenarbeit erleben die vHealth-Pioniere Krankenhäuser als offen und neugierig, was die Technik angeht, stellenweise jedoch als zu ausgelastet, um Neues auszuprobieren. „In vielen Fällen spürt man bereits den Fachkräftemangel und die vielen parallelen Digitalprojekte. Entscheidungsfindungen dauern mitunter etwas länger“, so Stefan Thomsen. „Unser Pluspunkt ist, dass neue IT-Infrastruktur unnötig ist: Wir liefern vorkonfigurierte VR-Brillen, die offline direkt einsatzbereit und intuitiv bedienbar sind. Ohne Installation und Log-in. Es gilt: einfach anschalten und mit der Einarbeitung loslegen. Wir haben uns Einfachheit auf die Fahnen geschrieben. Verfügen unsere Kunden schon über VR-Brillen, können wir alternativ diese bespielen, sonst bieten wir die Brillen in Kauf- oder Verleihpaketen.“
Um die vHealth-Angebote weiter auszugestalten, wurde kürzlich ein VR-Multiplayer entwickelt, der auf Basis von Brille und bestehender Internetverbindung Menschen von unterschiedlichen Orten aus in einer Realität zusammenbringt. Die Alterspyramide und der Mangel beispielsweise an therapeutischen Kräften machen den Bedarf deutlich: Senioren bleiben in ihren Räumlichkeiten, treffen gemeinsam mit anderen Patientinnen und Patienten die jeweiligen Therapeuten virtuell und können sich in der Gruppe austauschen. Vielfältige VR-Ideen gibt es im klinischen Kontext schon lange, die einfache Handhabung ist hingegen innovativ und erfolgversprechend.