Hat die Digitalisierung das Lesen verändert?
Einfach anmutende Fragen sind oft schwer zu beantworten. Gunnar Sieweke, Mitgründer und Geschäftsführer von sharemagazines, hat jedoch eine klare Meinung: „Ja, die Digitalisierung hat das Lesen verändert. Es sind verschiedene Trends erkennbar und wir erleben einen fortschreitenden Prozess. Für mich ist noch nicht abzusehen, wohin diese Reise gehen wird.“
Im Bereich der traditionellen Medien gibt es neben Büchern sogenannte Publikumszeitschriften wie Stern, Gala oder Kicker, Wochenzeitungen und es gibt regionale und überregionale Tageszeitungen. Die Digitalisierung beeinflusst diese Medien gleichermaßen und hat ganz neue Formate entstehen lassen. Dazu gehören Hörbücher. Sie werden gerne über Mobiltelefone gehört – ein Endgerät, das sich genauso stetig weiterentwickelt. Podcasts bieten Informationen, Reportagen und Nachrichten und finden ebenfalls überwiegend über das Telefon zum Hörer. Ganz eigene Endgeräte gibt es für die elektronischen Pendants von Büchern: E-Books. Für zusätzliche Bewegung sorgen technische Features wie Text-to-Speech, mit denen man sich Geschriebenes laut vorlesen lassen kann.
„Was wir sehen, sind sinkende Printauflagen. Sukzessive konsolidiert sich der Markt, regionale Tageszeitungsverlage fusionieren, einige wurden von größeren Verlagen übernommen, die Funke Mediengruppe stellt in einigen Regionen die lokale Belieferung von Print-Abonnements ein und bieten nur noch digitale Formate an. RTL hat das deutschsprachige Zeitschriftengeschäft von Gruner und Jahr übernommen, immerhin Europas ehemals größter Zeitschriftenverlag, strafft das Angebot und verkauft viele bekannte Titel. Lange haben Zeitschriften- und Zeitungsverlage ihre Inhalte online kostenlos angeboten. Weil die Verlagsbranche aber feststellen musste, dass Displaywerbung auf den Webseiten und Klicks auf diese Inhalte keinen hochwertigen Journalismus finanzieren, wandert immer mehr Content hinter die Paywall. Frühe Versuche von Flatrate-Tarifen für Inhalte aller Verlage werden inzwischen durch individuelle Abonnements einzelner Zeitungen und Zeitschriften abgelöst. In den Online-Portalen sind Artikel dann in kürzere Formate gepackt, damit sie sich schnell und bequem konsumieren lassen. Die WELT hat beispielsweise gleich zwei digitale Standbeine: die News-App für kurze Inhalte just-in-time und die WELT Edition zur Darstellung des ePapers, also der Printzeitung als App“, blickt Gunnar Sieweke auf Anbieter und Schwergewichte unter den Druckmedien. „Ich ziehe gerne den Vergleich zu Spotify, einer disruptiven Plattform in der Musikindustrie: Anders als in der Musik liegt die Kredibilität in der Verlagsbranche nicht beim Künstler, sondern bei den Verlagsmarken. Leser kaufen Artikel von BILD, BOOTE oder BUNTE und nicht den Beitrag eines bestimmten Journalisten. Vielleicht ändert sich das irgendwann und Journalisten werden zu eigenständigen Marken. Im Social-Media-Bereich hat sich dieser Wandel bereits vollzogen und das Konsumverhalten angepasst, der Anspruch an Informationen ist klein. In Sozialen Medien wird viel Zeit verbracht, Aufnahmefähigkeit und Zeitspanne, die einem einzelnen Inhalt gewidmet werden, sind dennoch gering. Influencer, die bloggen und Geschichten erzählen, ohne auf dem jeweiligen Gebiet unbedingt bewandert zu sein, werden gehört und gelesen. Gerade bei jüngeren Generationen steht ein Übergang zum Bedürfnis nach hochwertigem Journalismus mit umfangreicher Recherche und zu einer bewussten Vertiefung in einen Artikel noch aus, der in älteren Generationen bereits stattgefunden hat.“

Die Erfolgsgeschichte eines digitalen Lesezirkels
Wer den Wartebereich eines Arztes oder Friseurs betritt, wird häufig auf Angebote eines traditionellen Print-Lesezirkels stoßen. Über Lesezirkel können Zeitschriften regelmäßig bezogen werden. Ganze Pakete zu Interessensgebieten und auch die sprichwörtlichen Schlagzeilen von gestern, vergünstigte Magazine aus den Vorwochen, sind im Angebot.
Die Idee zu sharemagazines entstand genau in diesem Kosmos aus Warten und Lesen. Jan van Ahrens, Gründer von sharemagazines, saß im Vorzimmer eines Arztes neben einer Mutter mit kleinem Baby. Für ihn deutlich sichtbar hatte das Baby damals in eine aufgeschlagene Zeitschrift geniest. Mit dem Aufruf zur Untersuchung wechselte jene Zeitschrift mitsamt Nasensekret dann in die Hände des nächsten Wartenden. Die Suche nach einer hygienischen Alternative war 2014 Grundstein für die Digitalisierung des klassischen Lesezirkels. Neun Jahre später ist sharemagazines eine echte Erfolgsgeschichte.
„Unser Portfolio umfasst mittlerweile mehr als 800 Tageszeitungen und Magazine und ist damit eines der umfangreichsten in Deutschland. Mit der Süddeutschen ist gerade eine meiner Lieblingszeitungen dazugekommen und auch der Burda-Verlag, der erst nur mit Flaggschiffen wie dem Focus verfügbar war, hat ganz schnell alle Titel nachgezogen. Auch international gewinnen wir Anbieter wie die größte italienische Tageszeitung, die Il Corriere della Sera, oder die britische Tageszeitung The Guardian. In Wartebereichen, in Hotels oder innerhalb von Kliniken können Kunden, Patienten und Besucher unser Angebot ortsgebunden unbegrenzt aufrufen. Wird der festgelegte Bereich verlassen, endet der Zugriff“, beschreibt Gunnar Sieweke das Konzept. „Digital steht für große Auswahl, die Locations stellen sich umweltfreundlich auf, denn Druck und Verteilung des Lesestoffs entfallen, und das hygienische Befinden ist durch die Nutzung des eigenen Endgeräts wesentlich besser. Der letzte Punkt ist gerade im klinischen Bereich ein großer Mehrwert. Und einen Gedanken, der schmunzeln lässt, führe ich in Gesprächen noch gerne an: Liegt nur ein Kicker aus, muss ich vielleicht auf die Gala ausweichen. Klar ist die auf ihre Art auch spannend, aber zu meinem Lieblingsverein steht wahrscheinlich nichts drin.“
Über die von sharemagazines beanspruchten Vorteile hinaus, bieten die technischen Möglichkeiten eines digitalen Lesezirkels noch weitere Stärken. Leser können unterschiedliche Lesebedürfnisse gleichermaßen befriedigen: Nicht nur der intensive Konsum ganzer Magazine ist möglich, Inhalte lassen sich auch themenbezogen aus verschiedenen Quellen kombinieren. Wird beispielsweise der Hamburger SV tatsächlich einmal Deutscher Meister, finden sich schnell die passenden Artikel im Kicker, in der Sport Bild und im Hamburger Abendblatt.
Gelesen wird, wenn Leerlauf herrscht
„In Wartesituationen mit viel Zeit wird gerne gelesen, wenn Leerlauf herrscht: beim Arzt, beim Friseur oder im Autohaus“, unterstreicht Sieweke die Relevanz des Lesezirkels. „Im Vergleich ist die Verweildauer im Krankenhaus besonders lang. Je länger diese Zeitspanne für Patienten ist, desto größer ist eben auch die Chance auf Leerlauf. Deshalb sind Krankenhäuser für uns eine spannende Zielgruppe. Patienten liegen in ihren Betten und haben Zeit – erhalten sie Zugang zu unseren Angeboten, sind sie beschäftigt. Der Vorteil für das Krankenhaus? Beschäftigte Patienten stehen für weniger Aufwand in der Pflege, denn wer liest, ist abgelenkt. Keine Rückfragen und neuen Wünsche aus Langeweile: Fenster bitte auf, Fenster bitte zu, Flasche leider leer oder einmal Kissen schütteln.“
Das besondere Hygienebewusstsein im Gesundheitswesen sorgt für Interesse an digitalen Lesemöglichkeiten. Insbesondere während der Corona-Pandemie haben sich viele neue Kunden für sharemagazines als Anbieter entschieden. Schließlich spielt sicherlich auch das Wohlbefinden der Patienten eine Rolle bei deren Genesung – auch wenn Gunnar Sieweke diesen Zusammenhang nur im Konjunktiv anführen möchte.
Wie digital müssen Kliniken für einen digitalen Lesezirkel sein?
Die Plattform ist so aufgebaut, dass keine technischen Voraussetzungen notwendig sind. Damit passt sich sharemagazines den Rahmenbedingungen der Kliniklandschaft gut an, wo flächendeckendes WLAN oft eine Herausforderung darstellt. Die größere Herausforderung sieht der Digitalisierungsexperte aber in den Köpfen der Verantwortlichen: „‚Kein WLAN, keine Plattform‘, ist ein Gedanke, der uns immer noch begegnet. Wir erklären dann, dass die Nutzung von sharemagazines davon unabhängig und sehr wohl möglich ist. Über 500 Kliniken konnten wir mittlerweile ausstatten, etwa jedes vierte Haus in Deutschland. Weil wir von den Patienten gut angenommen werden, wachsen wir stark über Empfehlungen, oder Geschäftsführer nehmen uns als Anbieter einfach mit, wenn sie den Versorger wechseln. Natürlich merken wir, dass das KHZG aktuell im Fokus steht und Ressourcen bindet. Dass Kliniken sich mit ihrer Digitalisierung auseinandersetzen, ist aber auch eine Chance. Die hundertfache Einführungserfahrung erlaubt uns, die Projekte ganz einfach, realistisch und ohne lokale IT-Unterstützung zu gestalten und gezielt unter die Arme zu greifen, so dass unser Angebot wenige Wochen später auch wirklich beim Patienten ankommt.“
Auch wenn das System grundsätzlich losgelöst von infrastrukturellen Voraussetzungen umsetzbar ist, ist die bestehende Infrastruktur dennoch ausschlaggebend. Sind vor Ort Patiententerminals an den Betten verfügbar, werden diese als Endpunkt angestrebt, damit Patienten sich keine zusätzlichen Apps auf ihr Handy laden müssen und sich die Investition der Klinik einmal mehr auszahlt. Ist ein Patientenportal ausgerollt oder in Planung, bietet sich dieses ebenfalls als Integrationspunkt an. Entertainmentangebote erhöhen die Verweildauer der Patienten im Portal und dessen Attraktivität für den Patienten. Die Akzeptanz des gesamten Portalangebots wird dadurch gesteigert. Gibt es keine bestehenden Möglichkeiten, kann sharemagazines auch über die privaten Endgeräte der Patienten genutzt werden.
Serviceorientierung gegenüber Patienten bleibt wichtig
Das Voranschreiten der Digitalisierung geht mit einem Wandel der Menschen im Gesundheitssystem einher. Auf der professionellen Seite kommen sukzessive jüngere Arbeitnehmer hinzu, die Digitalisierungsthemen überwiegend offen gegenüberstehen, beziehungsweise diese bereits stärker in ihren beruflichen Kontext integriert haben. Für Digitalisierungsanbieter wie sharemagazines steht dieser Generationswechsel für niedrige Schwellen im Zugang zum Gesundheitssystem. Einen spürbaren Trend, den der Geschäftsführer im System ausmacht und auf den der Lesezirkel reagieren muss, ist die zunehmende Ambulantisierung. Weniger lang stationär oder rein ambulant behandelt, verändern Patienten ihr Nutzungsbedürfnis gegenüber Unterhaltungsangeboten. Der Leerlauf im Patientenbett als Erfolgsfaktor wird dann in diesem Maße nicht länger zum Tragen kommen.
„Ich glaube, es wird in Zukunft weniger Kliniken und weniger Klinikbetten geben. Das muss nicht schlecht sein, nur weil es aktuell ein großes Politikum ist – es gilt, diesen Wandel zum Vorteil von Patienten zu nutzen und effizient zu gestalten. Das Patientenverhalten wird sich durch die Ambulantisierung ändern, und das hat dann einen Einfluss auf unser Geschäftsmodell. Serviceorientierung gegenüber Patienten bleibt sicherlich wichtig. Ärzte und Pflegepersonal entscheiden darüber, wie gut sich Menschen im jeweiligen Haus aufgehoben fühlen und auch der Zugang zu Informationen und Medien spielt dabei eine Rolle“, blickt Sieweke auf das Krankenhaus der Zukunft. „Stand heute haben wir eine technisch und wirtschaftlich gute Lösung, die von Patienten hervorragend angenommen wird. Unseren Innovationsgeist setzen wir daran, auch für ambulante Szenarien das passende Angebot zu entwickeln.“
Patienten bleiben auch in Zukunft Patienten und werden trotz aller Angebote nicht zu Gästen ihrer Klinik. Wer krank ist, muss behandelt werden und die bestmögliche Behandlung erhalten. Die Digitalisierung wird aber für eine hohe Transparenz hinsichtlich aller Rahmenbedingungen dieser Behandlung sorgen. „Im BWL-Jargon würde man von Empowerment der Patienten sprechen. Ihr Einfluss auf die Behandlung wird wahrscheinlich steigen. Das eigene Wohlbefinden ist dann ein naheliegender Faktor, auf den Patienten einwirken können. Wer Vergleiche anstellt, zieht diese zur Auswahl heran. Und vermutlich ist der Vergleich, welche Klinik die Hüfte besser operiert, sogar weniger greifbar als der aus der Hotellerie vertraute Vergleich von Servicelevel und Wohlbefinden. Für das Gesundheitswesen gilt es, dieses Pendel zwischen Gast und Patient in Richtung guter Behandlungsqualität zu schwingen. Wo es in zehn oder gar zwanzig Jahren stehen wird, ist schwer zu sagen. Heute sollten die Bemühungen darauf abzielen, in kurzen Intervallen auf die Veränderung der Bedürfnisse zu reagieren. Patientenportale sind ein Weg, viele Angebote und Mehrwerte für Patienten an einem Punkt zu bündeln. Dafür müssen die Portale aber wirklich in den Kliniken – in allen Kliniken – ankommen und von dort aus zu den Patienten gebracht werden. Das ist der nächste wichtige Schritt, erst dann eröffnen sich neue digitale Möglichkeiten aus dem Portal heraus.“