Interviewserie – das digitale Krankenhaus der Zukunft

COVID-19, neue Regularien des Gesetzgebers und Digitalisierungsdruck – die Rahmenbedingungen unter denen Krankenhäuser Versorgungssicherheit gewährleisten müssen, ändern sich aktuell disruptiv. Der gesteigerte Versorgungsbedarf und sich ändernde gesellschaftliche Anforderungen treffen auf schwindende Ressourcen. Krankenhäuser befinden sich im Konflikt zwischen der Lösung von akuten (finanziellen und strukturellen) Problemen und der langfristigen Sicherung von Markenattraktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Wie gelingt den Häusern die Transformation in eine zukunftsfähige Versorgungswelt? Welche Megatrends und Geschäftsmodelle werden sich durchsetzen? Michael Kelbel, ehem. Vorstand Krankenhaus Agatharied KU, im Interview mit POLAVIS.

Im Interview: Michael Kelbel, Vorstand Krankenhaus Agatharied KU

Der Druck zur Digitalisierung steigt auch für Krankenhäuser. Wieviel Gestaltungsspielraum und Zeit bleibt für digitale, innovative Projekte?

Schade, dass Sie Digitalisierung und Innovation in einem Zug nennen. Digitalisierung bedeutet momentan nicht Innovation, sondern lediglich Umsetzung der Anforderungen des KHZG, um nicht sanktioniert zu werden. Das ist genau das Gegenteil von Innovation. Weil es ein Zwang ist, der nicht von den Häusern selbst verursacht ist. Krankenhäuser sind auf Investitionsmittel angewiesen. Die Finanzierung von Investitionsmaßnahmen im Krankenhausbereich lag bei den Ländern, die ihre Aufgabe jedoch über Jahre nicht wahrgenommen haben. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Der Gesetzgeber versucht nachzuholen, was in den letzten Jahren versäumt wurde, damit Deutschland im internationalen Vergleich nicht immer das Schlusslicht bildet. Dementsprechend sehe ich auch fast keinen Spielraum für wirkliche Innovation.

Führen sie aktuell Projekte durch, die unter das KHZG fallen oder besteht dafür keine Zeit, weil Versorgung sichergestellt werden muss?

Wir kommen dazu, wenn man es intelligent angeht. Wir überlegen, ob es sinnvoll ist, Prozesse eins zu eins in eine neue Werkzeugkiste zu überführen, nur weil es jetzt digitale Möglichkeiten dazu gibt. Wir versuchen es vielmehr als Chance zu begreifen, die Welt und Prozesse völlig neu zu denken.

Wir erkennen Innovationspotenziale, stoßen aber auch an Grenzen, die wir ausgeblendet haben, wie beispielsweise Datenschutz, KV-Anforderungen, sektorenübergreifende Zusammenarbeit und Datenaustausch. Spätestens da stellen wir fest,  dass wir nicht nur Werkzeughürden haben und viele Dinge neu entwickeln müssen weil es keine Standardprodukte gibt, sondern dass wir auch viele formale Hürden haben, die uns echte Probleme bereiten.

Wenn wir uns fragen, wie die Zukunft der Gesundheitsversorgung aussieht, dann müssen insbesondere Grenzen zwischen den Sektoren wegfallen und digitale Hürden abgebaut werden, an denen wir momentan festhängen. Denn selbst wenn man in der Lage ist, Prozesse neu zu denken, stellt man ab einem gewissen Punkt fest, dass diese gar nicht so leicht umsetzbar sind. Insbesondere das Thema Datenschutz ist ein riesiges Thema für uns.

Wie sollten digitale Lösungen eingesetzt werden, um Patientenbedürfnisse zu stärken und Mitarbeiter zu entlasten?

Die Priorisierung liegt klar auf den Prozessen. Wenn ich in der Lage bin, Prozesse digital abzubilden und zu modellieren, dann glaube ich ist die digitale Prozessunterstützung auch im Hinblick auf eine gesteigerte Wirtschaftlichkeit der zentrale Ansatz. Patienten und Prozesse sind hochindividuell, Behandlungen können im Allgemeinen nicht geplant werden. Es wird aber schwierig, wenn wir nicht einen Schritt weiterkommen und erkennen, dass die gesamte Effizienz am Anfang des Prozesses in einer sauberen Planung liegt und ich mir nicht im Klaren darüber bin, was ich mit dem Patienten vorhabe.

Das entscheidende Werkzeug ist es, mit Digitalisierung Prozesse zu unterstützen. Angefangen bei der Planung und vielleicht noch einen Schritt früher bei der Wissensbereitstellung. Es muss sichergestellt sein, dass jeder behandelnde Arzt über die gleiche Wissensbasis verfügt.

Wir müssen evidenzbasierte Medizin bereitstellen und brauchen Werkzeuge, die den Arzt ernsthaft unterstützen und durch den Prozess begleiten. Natürlich werden es auch Werkzeuge sein, die der Arzt selbst anwenden muss. Wir müssen davon abkommen, für jede Handlung Hilfskräfte wie Dokumentationsassistenten und Case Manager zur Verfügung zu stellen.

Digitale Prozesse brauchen Werkzeuge, die für denjenigen praktikabel sind, der die eigentliche Arbeit ausführt. Digitale Werkzeuge müssen es ermöglichen, einfach und intuitiv zu dokumentieren und die Daten allen an der Behandlung beteiligten Akteuren zur Verfügung zu stellen und weiterhin über einer Wissensdatenbank, über KI abzugleichen. D.h. in jeder Phase des Behandlungsprozesses gibt es eine digitale Unterstützung für die klassische Dokumentation, aber auch eine zur Überprüfung meiner Konklusionen und Handlungen im Kontext von evidenzbasierter Medizin und Wissensmanagement.

Michael Kelbel im Interview mit POLAVIS

Welche Themen und Lösungen können zur Unterstützung schnell in der Breite umgesetzt werden und sollten folglich zuerst fokussiert werden? Ist es ein vermeintlich einfaches Thema wie die digitale Dokumentation oder die komplexeren Themen wie Triage, Diagnostik und KI?

Leider blicke ich auf einen langen Erfahrungsschatz zurück. Normalerweise müsste man meinen, die digitale Dokumentation ist ein vergleichsweise einfaches Thema mit einem schnellen Umsetzungspotenzial. Wenn ich allerdings auf die letzten zwanzig, dreißig Jahre zurückblicke, hätten wir es schon längst geschafft haben müssen. Wir haben bereits in den Neunziger Jahren über prozessbegleitende Instrumente gesprochen. Es gab Ansätze und Hersteller, umgesetzt wurde jedoch nichts. Heute ist Dokumentation immer noch ein massiver Zeitaufwand. Mittlerweile scheint es eine größere Herausforderung zu sein, als das Thema KI zu integrieren. Wahrscheinlich wird das noch schneller passieren, als dass Menschen im Krankenhaus ordentliche Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen sie ihrer Arbeit schneller und effektiver erledigen können. Diesbezüglich haben wir uns in den letzten 30 Jahren nicht entwickelt.

Müssen sich Prozesse und ggf. Arbeitsmodelle für alle Dienstarten ändern, um Versorgungsleistung in Zukunft erbringen zu können?

Wir haben bereits vor Corona die massiven wirtschaftlichen Probleme der gesamten Branche gesehen. Laut DKI-Barometer sind über 50 Prozent der Häuser von wirtschaftlichen Schwierigkeiten betroffen und Corona wird die Situation nicht verbessern. Wir werden danach ein größeres Loch vorfinden als vorher. D.h. die Krankenhäuser müssen sich neu aufstellen.

Dazu müssen wir uns fragen, wie die Versorgungslandschaft in Zukunft aussehen wird. Wird es Versorgungskrankenhäuser geben, Notfallhäuser und daneben Fachkliniken? Wir “Gemischtwarenläden” haben uns über Jahre hinweg mit elektiven Leistungen eine Wirtschaftlichkeit in einzelnen Abteilungsstrukturen erarbeitet. Das waren die ersten Leistungen, die in der Krise weggefallen sind. Die Frage ist, ob wir dauerhaft die Kapazitäten haben werden, die wir vorher hatten, um die Umsätze zu generieren.

Wir müssen analysieren, welche Leistungen und Spezialgebiete noch dauerhaft tragfähig sind. Wo hat uns die Spezialisierung eventuell überrannt? Wo haben wir mitgemacht, weil wir glaubten mitmachen zu müssen, um noch Patienten zu bekommen? Gleichzeitig wissen wir, dass diese Spezialstrukturen bei uns zu klein sind. Um sie permanent aufrecht zu erhalten haben wir Kostenstrukturen, die durch keine Fallzahlen der Welt gedeckt sind. Das betrifft alle Krankenhäuser unserer Größenordnung, die diesen Weg gegangen sind. Dieser Weg war bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch richtig. Bis die stationären Fallzahlen ab 2017 bundesweit rückläufig waren. Wenn ich keine Fallzahlsteigerung mehr habe, muss ich mich neu erfinden und Leistungsstrukturen überdenken. Benachbarte Krankenhäuser können sich untereinander Gedanken machen, ob sie in verteilten Rollen arbeiten und zur Wirtschaftlichkeit beitragen können. Zu den Strukturänderungen kommen zwangsläufig neue Prozessanforderungen.

Auch muss überlegt werden, wie die Sektoren integriert werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist der Gesundheitscampus Bad Neustadt. Das sollte der Weg sein; die Integration der Sektoren an einem Standort, beginnend bei der Nothilfe. Wir werden das Krankenhaus wie wir es heute kennen, zerlegen müssen in all seine Minimalstrukturen und überdenken, wie wir das Puzzle neu zusammensetzen. Neue Arbeitsmodelle werden dabei nicht ausbleiben. Es werden meiner Meinung nach auch gänzlich neue Berufsgruppen und Berufsbilder entstehen.

Wir brauchen sowohl die Spezialisten, aber auch den breit aufgestellten Generalisten, der nah am Patienten arbeitet, weil wir sonst über die Entwicklung des medizinischen Wissens die Generalisten und den Gesamtblick über den Patienten verlieren. Das versuchen wir aufzubrechen und damit das Problem der ausufernden Spezialisierung in viel zu kleine Bereiche zu lösen.

Das Drama ist, es betriff über die Hälfte der Krankenhäuser, die sich jetzt neu erfinden müssen. Im Laufe dieses Prozesses oder danach werden wir von der Gesundheitspolitik Vorgaben bekommen, wie es zu machen ist. Dann ist es vielleicht egal, was wir in der Zwischenzeit verändert und welche Strukturen wir aufgebaut haben. Lautet die Vorgabe dann beispielsweise, wir trennen Versorgungskrankenhäuser und Fachkrankenhäuser, weil eine Mischung während Corona nicht funktioniert hat, dann haben wir natürlich mit Zitronen gehandelt, wenn wir neue Strukturen aufgebaut und damit versucht haben, neue Elektivpatienten zu akquirieren.

Welche Digitalisierungsthemen werden in den nächsten 3-5 Jahre die größten Auswirkungen auf das Gesundheitswesen haben?

Die Häuser werden sich in den nächsten Jahren wohl primär auf das Krankenhauszukunftsgesetz fokussieren. Grundsätzlich sehe ich zwei Schwerpunkte. Das eine ist die bereits angerissene intelligente Prozessunterstützung, bis hin zur KI. Das andere ist das Thema digitale Vernetzung. Diesbezüglich müssen wir dringend Wege finden, um insbesondere die formalen Hürden abzubauen. Es müssen auch technische Hürden abgebaut werden, wobei ich die technische Überwindbarkeit eher als kleineres Problem betrachte. Wenn im klinischen Bereich eine Patientenakte vorhanden ist und im ambulanten Bereich eine Fallakte, dann wird es schwierig. Wir müssen folglich dringend eine Homogenisierung zwischen ambulant, stationär und anderen Sektoren herbeiführen.