Ambulante Versorgung – Wie sieht die Zukunft aus?

Bezogen auf die Gesundheitsausgaben wurde in 2013 mit 155.513 Millionen Euro der größte Anteil der Gesamtausgaben des deutschen Gesundheitswesens (in Summe 314.939 Millionen Euro) für die Versorgung in ambulanten Einrichtungen aufgebracht (Statistisches Bundesamt 2015). Die Kosten der ambulanten Gesundheitsversorgung sind dabei über die Jahre kontinuierlich gestiegen, zuletzt von 2012 auf 2013 um 4,1 Prozent. Der Anteil der Arztpraxen an diesen Kosten betrug zuletzt 30 Prozent. Die Kostensteigerung spiegelt sich in einer steigenden Anzahl ambulanter Behandlungsfälle wider: im Jahr 2013 wurden 693 Millionen Behandlungsfälle bei 76 Millionen Personen erbracht, dies ist eine Steigerung zum Vorjahr um 3,1 Prozent (Statista 2015). Die Entwicklungszahlen der ambulanten Gesundheitseinrichtungen zeigen für die Praxen (haus- und fachärztliche sowie versorgungsbereichsübergreifende Einzel- und Gemeinschaftspraxen) seit 2010 ein stabiles, jährlich um ca. 1-2 Prozent abnehmendes Niveau auf zuletzt 83.249 Praxen in 2014 (Bundesarztregister 2015). Die Anzahl der Medizinischen Versorgungszentren ist nach gleicher Statistik demgegenüber seit Einführung des Modells durchgehend auf zuletzt 2.073 in 2014 gestiegen. Die MVZ dürften damit wesentlich den Rückgang um 11.350 Praxen seit 2005 erklären.

Aus dem Wachstum der Kosten und Leistungszahlen der ambulanten Gesundheitsversorgung ist für die Vergangenheit eine Leistungsverschiebung zwischen den Sektoren von stationärer hin zu mehr ambulanter Leistungserbringung auch unter Berücksichtigung der Strukturveränderung innerhalb des ambulanten Bereichs nicht zu belegen. Im Vergleich der jährlichen Wachstumsraten zeigt sich allerdings, dass die Behandlungsfälle im Zeitraum 2005 bis 2010 im ambulanten Bereich doppelt so stark (20,8 Prozent) wie im stationären Bereich (9,8 Prozent) gestiegen sind (Statistisches Bundesamt 2015). In den Folgejahren war die Steigerung vergleichbar. Erst von 2012 zu 2013 stiegen ambulante Fälle wieder deutlich stärker als stationäre (3,1 zu 0,9 Prozent). Neben der absoluten Zunahme der ambulanten Behandlungsfälle als solche, müssten in Zukunft vermehrt stationäre Krankenhausfälle durch eine optimierte ambulante Versorgung vermieden werden können, so eine aktuelle Studie des IGES-Instituts. Demnach könnten jährlich ca. 2 Millionen Fälle (insbesondere Notfallaufnahmen und Kurzlieger) ambulant statt stationär behandelt werden (IGES Institut 2015). Bezogen auf die Gesamtanzahl der ambulanten Behandlungsfälle wird dieses zusätzliche Volumen in den aktuellen Strukturen ohne Bedarf an weiteren ambulant tätigen Ärzten oder Einrichtungen aufgehen.

Treiber der Ambulantisierung

Eine zunehmende Ambulantisierung leitet sich entsprechend nicht aus der Fortführung der bisherigen Strukturen und Fallentwicklungen ab, sondern aus einer grundsätzlichen Veränderung von Leistungsbedarf und Leistungserbringung. Deren Treiber sind insbesondere Folgende:

  • Die demographische Entwicklung der Bevölkerung und die damit verbundene Verschiebung der Konstitution von Patienten (Lebenserwartung und Komorbiditäten) sowie in Folge der relevanten Diagnosen.
  • Die Zunahme des Gesundheitsbewusstseins in der Bevölkerung, die sich bereits regelmäßig mit Prävention und Vorsorge auseinandersetzt und sich im Krankheitsfalle aktiv zu Behandlungsoptionen informiert und verstärkt bewusst für einen Leistungserbringer entscheidet.
  • Die Entwicklung der Medizintechnik, die z.B. durch die Entwicklung verbesserter bildgebender Diagnostik die Identifizierung von Krankheitsursachen und ihre gezieltere Behandlung ermöglichen.
  • Die Weiterentwicklung der Medizin in fokussierten und schonenderen Behandlungsverfahren, die Aufwand, Nebenwirkungen und Risiken soweit reduzieren, dass ein stationärer Aufenthalt nicht mehr erforderlich ist.
  • Die Zielsetzungen der Akteure im Gesundheitssystem (insbesondere Gesetzgeber und Kostenträger), die eine optimale Qualität und Leistung zu möglichst geringen Kosten in der Gesamtversorgung anstreben.

Analog einem klassischen Marktmodell verschiebt sich auch in Der Gesundheitsversorgung demnach Angebot und Nachfrage. Einer wachsenden ambulanten Patientenklientel werden mehr und bessere ambulant erbringbare Leistungen gegenüberstehen. Die Vorteile werden insbesondere in der Behandlung chronisch Kranker liegen, deren Betreuung in Disease Management Programmen (DMP) zu einem höheren Maße in ambulanten Strukturen erfolgen kann. Für Langzeitkranke oder Hochrisikopatienten besteht durch eine leistungsfähigere ambulante Versorgung die Möglichkeit, wohnortnah und flexibler behandelt zu werden, so dass die Integration in den Lebens- und Berufsalltag verbessert wird und den Patienten mehr Selbständigkeit erlaubt.

Fokussierung der Leistungserbringer

Jenseits der besonderen Patientenkollektive wird insbesondere die Nachfrage nach schneller und optimierter Erbringung von Leistungen dazu führen, dass sich die Leistungserbringer in ihren Leistungsbereichen stärker fokussieren, um ihr Angebot auf die Nachfrage sowohl aus Erlössicht (Gewinnung von Patienten, Fallspektrum, Leistungsspektrum) als auch aus Zwang zur Kostenoptimierung (Qualität, Standardisierung, Ressourcenauslastung) abzustimmen. In Folge wird eine Stärkere Ambulantisierung zu einer Veränderung der gesamten Versorgungsstruktur führen.

Die Fokussierung wird dazu führen, dass die Leistungserbringer nach Möglichkeit nicht mehr in allen Bereichen vollumfänglich agieren, sondern Kernleistungsbereiche mit hoher Qualität und Effizienz ausbilden. Zusätzlich zu diesen Kernbereichen werden notwendige Leistungen, z.B. zur Sicherstellung der Daseinsvorsorge oder als Backup für andere Leistungserbringer, als Supportleistungen erbracht.

In diesem Modell ist die Fokussierung der Krankenhäuser auf die Notfallversorgung und die Komplexversorgung auf dem Niveau eines Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgers als Kernleistung zu erwarten, ggf. reduziert auf bestimmte Fachabteilungen oder Schwerpunkte. Diagnostik und Basisversorgung auf dem Niveau eines Grund- und Regelversorgers werden sich wo immer möglich in stärker ambulant ausgerichtete Strukturen verschieben (z.B. Zentren).

Die Fokussierung der Krankenhäuser bedingt eine weitere Ertüchtigung der ambulanten Strukturen, um z.B. die Aufgaben der Diagnostik oder auch der Basisversorgung so weit wie möglich und sinnvoll auf dem Niveau leisten zu können, auf dem bisher in erster Linie die stationäre Versorgung arbeitet. Die weitergehende Zuordnung von Leistungen auf die Beteiligten der Versorgung ist erforderlich, um insbesondere Ressourcen (Ausstattung, Personal, Finanzierung) dediziert planen und auslasten zu können. Die heute bereits existierenden Zentrumsstrukturen werden dazu ausgebaut und als wesentliche Stufe der Versorgungskette etabliert werden müssen, weil die notwendigen Ressourcen und Infrastrukturen nicht dezentral auf Ebene der niedergelassenen Ärzte sinnvoll vorgehalten werden können. Gut aufgestellte Zentren werden als enge Partner der Krankenhäuser mit diesen gemeinsam den Übergang zwischen ambulantem und stationärem Sektor managen und Behandlungsfälle bedarfsgerecht dort behandeln, wo eine qualitativ optimale Versorgung in den effizientesten Strukturen erbracht werden kann.

Der niedergelassene Arzt wird für die Patienten insbesondere in Fragen der Vorsorge und zur allgemeinen Gesundheitsberatung weiterhin zentraler erster Ansprechpartner sein. Er entscheidet in seiner Rolle als Berater und Patientenmanager über die Weiterleitung an ein Zentrum oder ein Krankenhaus.

Ambulante Versorgung in der Zukunft

Organisatorische und strukturelle Vernetzung

Durch die Fokussierung der Leistungserbringer wird die Zusammenarbeit der einzelnen Akteure, sowohl innerhalb der ambulanten als auch zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, wichtiger und anspruchsvoller. Neben der guten Kenntnis der Patientensituation (Anamnese, Diagnose, erfolgte Diagnostik bzw. Behandlung und Medikation) bei jedem aufnehmenden Akteur (Übergabeprozess), muss das jeweilige Leistungsspektrum der Akteure für einen aus Patientensicht optimalen Behandlungsablauf transparent sein (Übergabeziel). Im Idealfall kann jeder Akteur auf ganz spezielle Präferenzen abstellen und nur mit den Leistungen zur Versorgung beitragen, für die er am besten qualifiziert und ausgestattet ist.

Die Vernetzung soll schon seit Jahren insbesondere aus technischer Sicht verbessert werden, um den Austausch von Patientendaten, Versicherten- und Abrechnungsinformationen zu erleichtern. Die Bemühungen orientieren sich in der Regel stark an der heutigen Sektorenaufteilung und versuchen, über die vorhandenen sektoralen Systemlandschaften Brücken zu schlagen. Darüber hinaus ist aber eine eine umfassendere organisatorische und intersektorale Vernetzung erforderlich, die es erlaubt, in der Gesundheitsversorgung eine Arbeitsteilung durch die Abstimmung von Abläufen und Ressourcen zu etablieren. Verträge zur Integrierten Versorgung (IV) sind Beispiele für diese Abstimmung und belegen deren Umsetzbarkeit. Wird neben der horizontalen oder vertikalen Vernetzung in der Versorgungskette (z.B. Zusammenschluss von Fachärzten in einem MVZ bzw. Kooperation eines niedergelassenen Facharztes mit einem Krankenhaus) auch noch die räumliche Vernetzung betrachtet, ergibt sich die Möglichkeit einer Gliederung der gesamten Gesundheitsversorgung in eine flexible und dynamische Netzwerkstruktur mit ausgeprägter ambulanter Ausrichtung.

Um die Versorgung auch in ländlichen Gebieten mit der gleichen Zielsetzung realisieren zu können, ist darin außerdem eine Detaillierung in Richtung Arzt-entlastender Profile und der Einbindung von Dienstleistern und Fachkräften sinnvoll. Deligierbare ärztliche Leistungen und spezialisierte Aufgaben werden teils schon heute auf Expertenniveau in eigenen Strukturen aufgebaut und effizient erbracht, wie zum Beispiel in der häuslichen Intensivpflege oder der Heimbeatmung.

Um begrenzte Kapazitäten in der Versorgung im ländlichen Bereich zu kompensieren, bietet sich der Einsatz von erfahrenen und speziell geschulten Fachkräften an, die den Wirkungskreis des Hausarztes verlängern und intensivieren. In den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurden dazu Modellprojekte „AGnES“ (Arzt-entlastende Gemeindenahe E-Health-gestützte Systemische Intervention) erfolgreich durchgeführt und derzeit fortgesetzt (Gesundheitsministerium Brandenburg 2013). Die Fachkraft übernimmt dabei Hausbesuche und die Betreuung von Patienten im Sinne eines Fallmanagers inkl. „der Erhebung diagnostischer Parameter, […] der Dokumentation von Krankheitssymptomen und medizinisch relevanten Ereignissen sowie der Beratung. […] Hinzu kommen medizinische Tätigkeiten wie beispielsweise Blutentnahmen, Injektionen oder Wund- und Dekubitusbehandlungen.” Das Leistungsprofil des Hausarztes ändert sich durch die Etablierung eines „Schwester-Agnes-Netzes“ um den Hausarzt herum in eine ambulante Flächenversorgung, die auch in einem Rotations- bzw. Vertretungsprinzip gemeinsam durch ein Hausarzt-Netz abgedeckt werden kann.

Bei einem weiter steigenden Volumen an ambulanten Behandlungsfällen ist davon auszugehen, dass die Kooperation zwischen Ärzten und die Überweisung von Patienten insgesamt dynamischer sein muss, und dies in Arzt-Netzen flexibler und einfacher ist. Regelzentren, die heute vielfach informell bestehende Kooperationen in rechtliche Strukturen bringen, werden sich daher auch unabhängig von Spezialisierungen stärker ausprägen. Die Fachärzte entwickeln ihre Leistungen entsprechend Demographie und Fortschritt der Medizin weiter und können zukünftig daher mehr Behandlungen ambulant erbringen. Voraussetzung wird die verstärkte Bildung von gemeinsamen Spezial- oder Fachzentren sein, in denen sich Fachärzte kostenintensive Großgeräte und Medizintechnik teilen und sich somit auch diagnose- und behandlungsspezifisch ein zuvor den Krankenhäusern vorbehaltenem Leistungsniveau in der ambulanten Versorgung nähern. Diese Zentren werden auch räumlich in verkehrstechnisch günstig gelegenen Städten und Mittelzentren die Brücke zwischen der Flächenversorgung und der Krankenhausversorgung bilden. Die Vernetzung der Spezial-Fach-Zentren und Arzt-Netze an räumlich und versorgungsseitig zentral positionierte Krankenhäuser ermöglicht diesen, relevante Behandlungsfälle bei Bedarf einfach und schnell zu übernehmen bzw. geeignete Fälle für eine direkte Aufnahme bestmöglich vorzuselektieren, so dass sie ihre Ressourcen und Auslastung besser planen und steuern können.

Bei konsequenter Umsetzung des Netzwerkansatzes wird das Wachstum der stationären Fälle hinter dem der ambulanten Behandlungen in Zukunft zurückfallen: einerseits wird das ambulante Fallvolumen aufgrund der zuvor beschriebenen Treiber in sich wachsen, andererseits wird die Verschiebung von stationärer zu ambulanter Behandlung das Wachstum der stationären Fälle in den Krankenhäusern anteilig kompensieren.