Der Patient im Mittelpunkt digitaler Gesundheitsversorgung

Patient im Mittelpunkt digitale Gesundheit

Ein Vortrag von Prof. Dr. Christiane Woopen auf der Digital Health Conference 2018 in Berlin.

Prof. Dr. Christiane Woopen ist deutsche Medizinethikerin und bekleidet seit 2009 die Professur für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Europäischen Ethikrates.

Sie haben schon ganz oft gehört, dass der Patient im Mittelpunkt des Gesundheitswesens stehen sollte. Ich schließe mich hier einem Diktum an, nämlich, dass es ausgesprochen erstaunlich ist, dass man sich immer wieder im Alltag fragt, wofür war dieses Gesundheitswesen nochmal da, war da nicht so ein Patient? Es ist erstaunlich, dass man darauf tatsächlich herumreiten muss, aber das hat unterschiedliche Aspekte. Der Deutsche Ethikrat, dem ich bis 2016 vorsitzen durfte, hat eine der letzten Stellungnahmen den Patienten als ethischen Maßstab im Krankenhaus gewidmet. Alles was darin steht, kann man vom Grundgedanken auf die ganze Gesundheitsversorgung übertragen. Man muss sich am Patientenwohl orientieren, woran sonst? Aber da gibt es auch Widersprüche. Manche sagen, es geht um die Gesundheit des Patienten und da weiß der Arzt natürlich, was für den Patienten am besten ist. Man muss ihm also nur sagen, was man in dieser Situation tun muss. Andere sagen, nicht die Gesundheit, sondern das Wohl des Patienten ist das oberste Gebot. Was das Wohl ist, kann der Arzt alleine gar nicht definieren, sondern da müssen wir dem Patienten eine Stimme geben, denn es geht ja um sein Leben. Gesundheit ist ein fundamentales Gut und beeinflusst unsere Lebensmöglichkeiten ganz erheblich. Also müssen wir den Patienten fragen, was zu seinem Wohle ist.

Es geht also um Gesundheit und um Selbstbestimmung, es geht eben auch um Lebensqualität und das ist mir besonders wichtig, da es oft vergessen wird. Auch Studien wenden nicht selten Lebensqualitätsinstrumente an, die eigentlich nicht Lebensqualität in einem ethisch gehaltvollen Sinn erfassen, sondern vielmehr einen subjektiv bewerteten Gesundheitszustand. Aber worauf es ankommt, ist die Qualität des Lebens des Patienten. Insofern finde ich es toll, dass es einer der drei patientenrelevanten Endpunkte im SGB 5 ist und auch bewertet werden muss. Nichtsdestotrotz gibt es hier noch erheblichen Nachholbedarf, sodass man dies tatsächlich explizit berücksichtigt.

Jetzt müssen sie sich ein bisschen anschnallen: Der Ethikrat hat drei operationalisierende Kriterien genannt, wie man das Patientenwohl fassen kann. Das ist jetzt zugegebenermaßen etwas schwerfällig, aber uns ist damals nichts Besseres eingefallen: Die selbstbestimmungsermöglichende Sorge. Es ist kein schönes Wort, geschenkt. Aber es sagt, was uns damals ein Anliegen war. Nämlich, dass der Patient in einer verletzlichen, in einer abhängigen Situation ist. Es geht ihm schlecht und er hat selbst nicht die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. D.h. man muss für ihn sorgen, aber auf eine Art und Weise, die ihm die Selbstbestimmungsmöglichkeiten wieder zurückgibt, sofern sie durch die Erkrankung eingeschränkt ist. Selbstverständlich ist die gute Behandlungsqualität wichtig, aber auch Fragen von Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit. Jetzt kann man sagen, in unserem Solidarsystem hat jeder denselben Zugang zum Gesundheitswesen. Das ist im Prinzip auch so. Aber wenn man in bestimmte Versorgungswirklichkeiten hineinguckt, gibt es Gruppen, die erheblich benachteiligt sind. Kinder und Jugendliche werden nicht angemessen versorgt. Die Strukturen dafür stehen nicht zur Verfügung; wenn in München, in einer unserer großen Städte, Kinder im Notfall sogar aufs Land geschickt werden müssen, weil die Kapazitäten nicht reichen. Oder wenn die Ausstattung so ist, dass sie nicht dafür ausgerichtet ist, genug Zeit zu haben, um mit den Eltern zu sprechen, das Personal gnadenlos überfordert ist, weil es um ein ganz anderes Behandlungsspektrum geht. Alte Menschen, multimorbide Menschen, Menschen mit Demenz in einer Akutsituation im Krankenhaus, werden nicht gleichermaßen gut versorgt, wie andere Menschen ohne Demenz, weil ihren zusätzlichen Bedarfen nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Also da kann man, obwohl wir ein sehr gutes Gesundheitssystem haben, eine Menge tun.

Was kommt durch die Digitalisierung jetzt noch hinzu? Wie können wir dazu beitragen? Das ist zum einen, die einfache Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Sammelbarkeit von Daten. Es ist die Mustererkennung in großen Datenmengen. Jetzt heißt es immer so schön, umso mehr Daten, desto mehr Erkenntnis. Umso mehr Daten, desto weniger Erkenntnis stimmt hier aber auch. Denn in großen Datenmengen finden Sie auch jede Menge Mist. In Big Data finden Sie erst einmal nur Korrelationen und mit Kausalitäten hat dies zunächst nichts zu tun. D.h. eine erklärende Kraft hat dies nicht, sondern es ist ein Anfang für eine Hypothese, die man dann mit evidenzbasierter Medizin überprüfen muss. Wenn Sie einmal sorgsam darauf achten, wie über Big Data und Erkenntnisgenerierung aus großen Datenmengen gesprochen wird, werden Sie merken, dass ein erheblicher Anteil davon genau diese falschen Implikationen enthält, als ob man da automatisch etwas ganz Tolles drin erkennt. Die algorithmischen Folgerungen aus Daten zu definierten Behandlungszwecken ist ein besonderes Qualitätsproblem, auch weil die Qualität dieser Empfehlungen, die daraus folgen, davon abhängt, mit welchen Daten sie gefüttert wurden. Gerade im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz. Weiterhin hilft die Digitalisierung natürlich erheblich bei der Vernetzung, sodass das sektorale Gesundheitswesen, zwar möglicherweise historisch, aber jedenfalls aus Patientenwohl-Gesichtspunkten in der Weise, wie es heute existiert, nicht zu rechtfertigen ist.

Es sieht so einfach aus. Schön wäre, wenn es auch so einfach ist. Selbstbestimmung heißt, ich weiß etwas über mich, ich kann etwas über mich selbst in Erfahrung bringen und kann, vielleicht ohne mich zunächst an einen Arzt zu wenden, in eine App beispielsweise etwas eingeben, in eine Kommunikation treten, um mal zu gucken, wo stehe ich ungefähr, wie dringend ist was und an wen kann oder sollte ich mich wenden. Es heißt eben auch, dass man Zuhause eigene Diagnostiken machen kann. Das ist natürlich sehr voraussetzungsreich und man sollte danach mit einem Arzt darüber sprechen, denn man kann das ja nicht alles auf einmal selbst. Aber zumindest kann man zu Hause schonmal eine ganze Menge tun und ist dadurch auch unabhängig. Die telemedizinische Sprechstunde wurde erwähnt. Das ist toll, ich kann mich vor der Arbeit bei der Teleklinik melden, die schauen sich das über die Kamera an und sagen: das ist es, das ist es nicht und stellen mir dann ein E-Rezept aus und auf dem Weg zum Büro hol ich es von der Apotheke ab, muss aber nicht meine ganzen Termine am Morgen verschieben. Ich finde dies einen erheblichen Gewinn an Selbstbestimmung, Entfaltungsmöglichkeiten und Unabhängigkeit.

Die Stiftung Gesundheitswesen ist eine der Beispiele, die dazu führen, dass man Gesundheitsinformationen im Internet findet und sich dort qualitätsgestützt und evidenzbasiert informieren kann. Es gibt hier ein ganzes Spektrum an Angeboten. Diese Gesundheitsinformationen irritieren natürlich auch manchmal. Wie soll denn derjenige, der sich nicht damit auskennt, wissen, wie qualitätsgestützt die Informationen sind?

Jetzt sind das alles wunderbare Möglichkeiten, aber wie sieht es im Alltag aus? In einer Bertelsmann-Studie finden Ärzte es gar nicht so witzig, wenn Patienten so gut informiert sind. Sie finden das eher mühsam. Das kann ich vor allem dann sehr gut verstehen, wenn die Patienten falsch informiert sind, denn dann ist es unglaublich mühsam, etwas anders zu begründen oder dem Patienten nahe zu bringen. Aber wenn sie gut informiert sind, dann mag es anstrengend sein, die Fragen sind differenzierter, es wird mehr abgebogen, es kostet vielleicht mehr Zeit. Andererseits weiß ich aber dann als Arzt doch auch, der Patient macht anschließend auch, was wir vereinbart haben, weil er versteht, was los ist und was er zusammen mit dem Arzt in einem partizipativen Prozess erarbeitet hat. Doch 81 % der Ärzte ärgern sich über die Selbstinformation des Patienten. D. h. keine 20 % der Ärzte freuen sich über informierte Patienten. Das finde ich einen erschreckenden Befund. Erschreckend ist auch, dass die wirklich qualitätsgestützten Gesundheitsinformationen im Internet nicht die bekanntesten sind oder am meisten Vertrauen genießen. Die Bekanntheit könnte man natürlich noch durch PR-Kampagnen steigern. Das Vertrauen muss man offenbar auch noch durch andere Dinge steigern. Wikipedia ist hier am bekanntesten. Aber patienten-information.de oder gesundheitsinformation.de sind kaum bekannt und genießen auch weniger Vertrauen.

Ein wesentliches Konzept für die Stärkung der Selbstbestimmung im Gesundheitswesen ist die sogenannte Gesundheitskompetenz. Wie schafft man es, dass Patienten gesundheitskompetent werden? In einem europäischen Projekt haben Sørensen et al. dieses Modell entwickelt. Wichtig daran ist, zu erkennen, es geht um den Umgang mit Gesundheitsinformationen in diesem Kreislauf. Also hat man Zugang, versteht man sie, bewertet und wendet man sie richtig an? Zwischen Verstehen und Bewerten kann ein unglaublicher Graben liegen. Zu wissen, man hat ein 80 % Risiko bei der Operation zu versterben, kann für die einen unglaublich hoch sein, weil es ein elektiver Eingriff ist, für die anderen ist es ein absolut akzeptables Risiko, weil es sich um eine lebensrettende Operation handelt. Die Risikokommunikation ist hier eine unglaublich große Herausforderung. Es ist auch wichtig zu sehen, dass es hier unterschiedliche Elemente gibt. Es gibt die Wissenskomponente, es gibt die Kompetenzen mit gewissen Instrumenten umzugehen. Es gibt aber auch die motivationale Komponente. Jeder Raucher weiß, dass Rauchen schädlich ist. Deswegen hört er aber noch lange nicht auf zu rauchen, auch wenn er es richtig bewertet. D. h. die Motivation, die Bedeutung dieser Gesundheitsinformation im Leben des Patienten ist ganz unabhängig von der Digitalisierung einer der entscheidenden Faktoren, ob die Digitalisierung funktionieren wird oder nicht. Bei Wearables und Gesundheits-Apps ist ja gerade im Lifestylebereich hinreichend bekannt, dass es am Anfang motiviert, aber wenn die Unterschiede nicht mehr groß sind, wenn man es als immer nur diese 10.000 Schritte sieht, lässt die Motivation wieder nach. Etwas anderes ist es, wenn Patienten es wirklich in ihrem Krankheitsbewältigungsweg als kontinuierliches Monitoring brauchen und aus diesen Daten auch immer wieder Anpassungen hervorgehen.

Drei Stufen der Patientenpartizipation

Der Satz aus den Usability-Studies “Nothing about us without us” beschreibt in der Digitalisierung einen der Hauptmotoren, die Patientenpartizipation ernsthaft nach vorne zu bringen.

Stufe 1

Die niedrigste Partizipation, wenn es den Begriff überhaupt verdient, ist der Patient als Anwender, nachdem ein digitales Produkt in den Markt eingeführt worden ist. Eigentlich darf man das nicht Teilhabe nennen, es ist eher eine Teilnahme, wenn überhaupt. Man nutzt das eben.

Stufe 2

Die nächste Stufe ist, dass der Patient durch Erhebung in den Prozess einbezogen wird.

Stufe 3

Hier wird der Patient als Co-Creator, als Mitschaffender, als Teil des Teams, das ein Produkt entwickelt, gesehen. Das ist im Kreislauf von Entwicklung, Implementierung, Validierung von digitalisierten Prozessen eigentlich kein Problem, Patienten in diesen Prozess einzubeziehen.

Dateneigentum

Wem gehören die Patientendaten? Dateneigentum beschäftigt uns natürlich auch in der Ethikkommission. Hier gibt es unterschiedliche Modelle. Menschen können sich zu einer Art Firma machen und verkaufen ihre Daten persönlich, bis hin zu genossenschaftlichen Ansätzen, wo man sich zu interessierten Genossenschaften gemeinnützig zusammenschließt und diese Genossenschaften die Daten verwalten und zwar im eigenen Interesse. Man behält die Datensouveränität und stellt die persönlichen Daten dann zu Forschungszwecken zur Verfügung. Ich möchte hier auf ein ernstes Thema zurückkommen. Es geht um den Artikel in der FAZ “Der Algorithmus schlägt die letzte Stunde”. Was steht dahinter? Squire Health im Staat Tennessee in den USA, mittlerweile gefördert von Google, war eigentlich dafür da, schwerkranke Patienten zu Hause mit palliativen Teams zu begleiten. Jetzt haben sie einen Algorithmus entwickelt, der die Prognose bei Zwischenfällen errechnet, um daraufhin zu entscheiden, ob es sich noch lohnt, den Patienten in dieser verschlimmerten Situation ins Krankenhaus zu bringen oder nicht. Jetzt gab es in Deutschland einen Aufschrei: algorithmische Entscheidungen würden jetzt über Leben und Tod entscheiden. Ein Algorithmus entscheidet gar nichts. Entscheidungen gehören immer Präferenzen. Man kann sich vom Algorithmus immer etwas empfehlen lassen, die Verantwortung muss aus ethischer Sicht aber immer beim Arzt bleiben, sie muss vor allen Dingen auch beim Patienten bleiben. D.h. der Algorithmus mag ja ausrechnen, wie die Prognose ist, aber ob das auf den jeweiligen Patienten zutrifft, ist vollkommen unklar. Dem Patienten muss überlassen werden zu entscheiden, möchte ich für diese kleine Überlebenschance noch ins Krankenhaus oder möchte ich lieber zu Hause gut begleitet palliativ sterben? Ob der Algorithmus ethisch vertretbar ist oder nicht, hängt nicht davon ab, ob es ein Algorithmus ist oder nicht, sondern hängt davon ab, welche Daten er in diese Entscheidungsvorbereitung miteinbezieht. Wenn die Kosten eingerechnet werden, ist es natürlich völlig anders zu bewerten, als wenn er es rein medizinisch macht und dem Patienten damit eine selbstbestimmte Entscheidung für die letzten Tage oder Wochen seines Lebens ermöglicht.

Aus ethischer Sicht muss der Patient im Mittelpunkt der Versorgung stehen. Die Digitalisierung ermöglicht hier mehr Selbstbestimmung und eine ernst gemeinte Partizipation. Auch zuweilen, wenn es vernünftig evidenzbasiert entwickelt und geprüft wurde, auch zu einer effizienteren Gesundheitsversorgung beiträgt. Mehr Daten können auch die Forschung verbessern, aber es ist hier natürlich noch viel zu tun. Hier macht es Sinn, eine Ethical-Governance-Struktur zu implementieren, wie es auch der internationale Bio-Ethik Ausschuss der UNESCO vorgeschlagen hat.

Eine Sorge der Ärzte, die die Etablierung innovativer Lösungen in Deutschland in den letzten Jahren etwas geblockt hat, ist die unverantwortliche Einführung. Früher hieß es: “An apple a day keeps the doctor away“. Heute heißt eher “An app a day keeps the doctor away. Aber davor sollte man eigentlich keine Angst haben. Früher in der Antike, im Mittelalter, hatten die Ärzte nicht so viele Möglichkeiten, Krankheiten kausal ernsthaft zu behandeln. D.h. es war eine vorwiegend sprechende Medizin. Vielleicht kommen wir jetzt, nachdem wir eine naturwissenschaftlich und technisch ausgerechnete Medizinentwicklung hatten, wieder zurück dazu. Denn vieles, was der Arzt früher gemacht hat, kann ihm jetzt zum Teil abgenommen werden oder er kann zumindest dabei unterstützt werden. Jetzt kann er tatsächlich Zeit sparen. Hier müssen wir allerdings aufpassen, dass umso mehr Zeit der Arzt hat, nicht die Stellen wegrationalisiert werden, sondern die Stellen bewahrt werden und dieser Zeitgewinn tatsächlich für den Patient genutzt wird. Die Teleklinik hat beispielsweise durchschnittlich 12 Minuten Gesprächszeit mit dem Patienten und nicht wie im analogen Gesundheitssystem 6 – 8 Minuten.

Was mir noch besonders wichtig ist und in der Diskussion oft verloren geht, ist, dass der Mensch weitaus mehr ist als seine Daten. Was wir in einem persönlichen Gespräch erreichen können, in dem man den Patienten wahrnimmt, in seiner Lebenssituation, in seiner Biographie, ist ein wesentlicher Bestandteil in der Versorgung. Hier muss der Arzt keine Angst haben, ersetzt zu werden, denn das kann in der Versorgung nicht ersetzt werden.

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